Márai, Sándor
die Wohnadresse hast du vergessen.
BYRON
Goethe sagte über ihn: »Lord Byron ist nur groß, wenn er dichtet, sobald er nachdenkt, ist er kindlich.«
Und er fuhr nicht fort mit dem, was er fühlte: »Das wahre Genie kann kindlich sein, wenn es dichtet; und es ist groß, wenn es nachdenkt.«
ALLGEMEINE BEFINDLICHKEIT
Er lehnte sich an einen Baum, sah auf die Glut seiner Zigarette und sagte leise: »Es gibt immer etwas, womit ich es begründen kann. Der Spanische Bürgerkrieg. Das miserable Buch eines schwachen Autors. Oder es regnet. Oder jemand ist nicht gekommen. Und es gibt stets irgendeinen allgemeinen, zweifelhaften Vorwand und Grund – die ›Epoche‹, die ›Zeitläufte‹, die ›Menschheit‹, die so oder so ist, niederträchtig und hoffnungslos«, und was die Ursache dafür ist, dass ich beim Lesen vom Buch aufblicke oder, wenn es klingelt, aufgeregt zur Tür laufe oder glaube, ich müsste einen Brief, eine Proklamation schreiben, in der ich Protest anmelde und der Welt erkläre, dass ich nichts dafür kann und nicht zustimme.
All das ist auch richtig: Der Spanische Bürgerkrieg ist eine unerträgliche Schweinerei, die Menschheit verdient Prügel. Nur – während ich stumm oder lauthals lamentiere und anklage – weiß ich eigentlich, dass es gar nicht darum geht. Dieses Etwas, das man allgemeine Befindlichkeit nennt, hat nichts mit den Hundstagen, nichts mit den Kriegsaussichten und auch nichts mit der Krise des Kapitalismus zu tun. Dieses Etwas bin ich, diese allgemeine Befindlichkeit liegt bei mir selbst. Ich habe etwas versäumt, ich war nicht stark, mutig, gemein, träge, heldenhaft, gut oder grausam genug für etwas. Deshalb ist meine allgemeine Befindlichkeit schlecht, gestern und ewig.
Er warf seine Zigarette fort, trat sie aus und sagte: »Gestern und ewig.«
DER AUGENBLICK
Der Augenblick, da ich vom Berg herabstieg und die Welt sich mit leichtem, süßem und schuldlosem Glücksgefühl erfüllt hat. Der Augenblick, da ich erwachte, Ende Oktober, frühmorgens, und merkte, dass ich für etwas reif geworden war: fürs Leben oder für den Tod; und zwischen den zwei Möglichkeiten gar keinen aufregenden Unterschied empfand. Der Augenblick, da der Körper in der erquickenden Flut eines Lebensgefühls seinen Sinn verliert, und der Augenblick, da der Körper seinen unheimlichen Sinn zurückerlangt im Abenteuer der Liebe und des Todes in seiner schicksalhaften Bedeutung. Der Augenblick, da in einem düsteren Saal oder hinter einem halb geschlossenen Fenster, bei regnerischem Wetter die Musik erklingt. Der Augenblick, da du das Schicksal fühlst. Der Augenblick, da du stärker bist als das Schicksal.
Der Augenblick, dieser Kurzschluss im Stromkreis der Zeit. Der Augenblick, diese unendlich verdichtete Zeitspanne, dieses konzentrierte Schicksal.
DIE JUNGE FRAU
Sie erscheint samt Ehemann, trägt einen breitkrempigen, runden Strohhut und blickt im Garten, wo enttäuschte Liebende und alte Ehepaare saßen, so stolz umher, wie jemand, der mit einem einzigen Kunstgriff das Gefüge der Welt in Ordnung gebracht hat. Um sie herum nur kaputte Beziehungen, Gleichgültigkeit, Streit und Langeweile. Seht her, es geht auch anders! – demonstriert sie in Glückspose, indem sie sich bei ihrem Mann einhängt und mit funkelnden Augen um sich schaut zwischen den Bäumen und den Menschen.
Der Mann ist etwas geniert, senkt den Kopf. Ihr intimes Geheimnis tragen sie unübersehbar vor sich her, ihre sinnliche Körperlichkeit, die sie zeigen und mit jedem Atemzug verbreiten, ist so völlig akzeptiert wie die nach Salmiakgeist riechende Leiblichkeit einer Bedürfnisanstalt. Ihr Glück ist mit Brief und Siegel garantiert. Doch das wahre Glück, meine ich, ist ein Geheimnis mit sieben Siegeln.
Mit der Naschhaftigkeit von Anfängern löffelt einer in der Suppe des andern, wie Jungverliebte dies zu tun pflegen, die gern ihre Beine und Hände miteinander tauschen, alles teilen, was die Körper an Möglichkeiten bieten, und mit süßer Zwanglosigkeit des Stalles zusammengrunzen. Scheinbar tut es ihnen gut. Solchem Glück aber mangelt es an Sauerstoff; ich selbst vertrage nur mehr Höhenluft, die viertausend Meter hohe Einsamkeit, das Ozon, die Erinnerung. Auf alle Fälle verneige ich mich tief vor der jungen Frau, erweise ihr meine Reverenz, wie es der Wanderer, der als Lama nach Tibet geht, vor der Idylle einer armseligen Bauernkate tut.
KRÚDY*
So, wie wir uns zeitlich von der Erinnerung an sein körperliches Dasein
Weitere Kostenlose Bücher