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Márai, Sándor

Márai, Sándor

Titel: Márai, Sándor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die vier Jahreszeiten
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an der Konklusion der Farbenlehre herumpusselt, sondern wegen des Achtzeilers, in dem er sich verwundert zeigt, dass er lebt und sterben wird. Da ist er wirklich »gebildet«. Tolstoi verstand nichts von Kriegsstrategie, dafür aber von Napoleon, diesem geheimnisvollen Menschenmaterial, aus dem Napoleon geworden ist, davon verstand er etwas. Dieses andere Wissen ist das Zuverlässigere.
    DAS MEER
    Im Traum höre ich manchmal das Meer. Und dann überkommt mich eine unwiderstehliche Sehnsucht, ein so tiefes, schmerzliches Heimweh, dass mir im Schlaf Tränen in die Augen treten und über die Wangen rollen. Am Morgen nach einer solchen Nacht erwache ich mit salzigem Geschmack in den Mundwinkeln, als hätte ich – in der eigenartigen Realität des Traums – mein Gesicht ins Meerwasser eingetaucht.
    DIE TOURISTEN
    Touristen, diese mechanisierten Nomaden. Schopenhauer hat sie gehasst.
    ANLEIHEN
    Die Weltliteratur ist voll von kleineren, freundschaftlichen Anleihen. Byron gab Puschkin, Stendhal gab Flaubert, Baudelaire hat sich bei Poe bedient, gab dann aber das Geliehene auch zurück, wie Valéry dies anhand von Quittungen nachgewiesen hat. Bei Shakespeare nahmen Schriftsteller dreihundert Jahre lang Anleihen wie bei einer Bank. Das ist eben so. Nur der Dilettant glaubt, dass er ohne Ahnen und Vorfahren ausgekommen ist. Ein Autor ist demütig, weiß, dass er seinen Vorgängern persönlich etwas schuldet. Goethe hat seine Gläubiger, die Griechen und Shakespeare, sorgsam evident gehalten und war bis an sein Lebensende um Tilgung bemüht.
    UM DIE VIERZIG
    Um die vierzig ist das Leben eines Menschen erfüllt von irgendeinem konzentrierten Hass. Die wenigsten wissen, was oder wen sie hassen. Sie winden sich, verstehen es nicht, murren, geben Widerreden oder verstummen, weil »es sich sowieso nicht lohnt«, und dann schreien sie plötzlich auf, hauen auf den Tisch oder treten in eine Partei ein. Und jetzt sind sie endlich frei zu hassen. Um die vierzig ist jeder Mensch reif für die Politik.
    ALLEIN
    Im Leben eines jeden Menschen und jeder Nation kommt einmal der Tag, an dem man verstehen muss, an dem wir einsehen, dass wir uns auf nichts und niemanden in der Welt verlassen können: Wir sind allein. Dieser Tag ist ein ebensolcher Dienstag oder Donnerstag wie die übrigen. Am Morgen fuhren die Züge noch, man ging ins Kaffeehaus und hat vom Ober Zigaretten verlangt. Und dann, gegen elf, zwischen zwei Nachrichten, erfuhr man, dass etwas geschehen ist; sah zur Decke hinauf, rieb sich die Stirn und errötete leicht. In solchen Augenblicken erfährt man, dass man unabänderlich allein geblieben ist auf der Welt. Das ist der Moment, in dem jeder Mensch – manchmal zähneknirschend, gegen seinen Willen – zum Helden wird.
    NAMEN
    Diese Namen habe ich geliebt: Agnes, weil sie sanft und blond, Edith, weil sie fremd und hochmütig ist, nordisch wirkt, mit einer Spur ins Silbergraue. Ester, die pausbäckig und vollblütig ist. Anna, weil sie einer Frau gleicht, die glücklich, einfältig und brav die Hände zum Gebet faltet. Ilona, die einem so vertraut ist wie ein Bissen Brot. Solange, ihr Name klingt wie ein exotisches Duftwasser, das teuer ist und zum Würgen reizt. Die übrigen habe ich nicht geliebt.
    DER AUSGLEICH
    Sie trug ein schwarzes Samtkleid mit tieffeuriger gelber Rose und wurde Adele genannt. Sie war wie Österreich vor dem Ausgleich*.
    ERINNERUNG AN DIE BRETAGNE
    Das Bild dieser Landschaft kehrt mit wundersamer Vertrautheit immer wieder, im Wachzustand und im Traum. Als hätte ich dort etwas zurückgelassen. In Morlaix der Fischmarkt. In Tregastel die roten Klippen am Meer, das tiefblaue Wasser, diese ernste, schwelgerische Natur. In Roscoff der jahrhundertealte Feigenbaum im Hof. Die Fischer in St.-Maló, wie sie nach irgendwelchen überlieferten mittelalterlichen Regeln, eingefleischten Ritualen des Elements und der Stadt leben und arbeiten, schwer und stumm. Aber das ist nur Zubehör, Verkleidung der Erinnerung. Was ohne Unterlass zu mir spricht von dieser Landschaft, spricht und ruft, das ist das Schicksalhafte, als hätte ich dort schon einmal gelebt. Es gibt solche Gegenden. Und plötzlich umfangen sie dich, und du kannst nicht dagegen angehen.
    FRANCE
    Er war klug und verdorben. Die selbstbewusste, reife Verdorbenheit, diese aufpolierte, kultivierte, edle geistige Korrumpiertheit gibt seinen Texten eine eigentümliche Würze. Er war auf eine Weise verdorben wie ein Priester, der sein Amt tadellos versieht, nur –

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