Marc Levy
Tod zahlst du für die Träume, die du von ihr bekommen hast.«
»Diese Träume sind ganz schön teuer, Antoine. Bitte lass mich allein«, sagte das Kind.
»Du bist schon allein mit ihr. Schließ deine Augen, und du 134
wirst vergessen, dass ich da bin, das ist die Macht der Gefühle.
Du bist jetzt ganz allein, das hier ist erst der Anfang eines langen Weges.«
»Ist sie nicht schön? Ich dachte, dass der Tod mir angst machen würde, aber ich finde, sie sieht schön aus.«
Er nahm die Hand seiner Mutter, führte sie an sein Gesicht und streichelte langsam seine Wange, dann drückte er einen Kuss in ihre Handfläche.
Welcher Kuss eines Mannes hätte je so innig sein können?
»Arthur?« sagte Antoine.
»Ja.«
»Dieser Brief ist für dich. Ich lasse dich jetzt allein.«
Einmal nur roch Arthur an dem Umschlag und atmete den Duft ein, der an ihm haftete, dann riss er ihn auf.
Mein großer Arthur,
Wenn Du diesen Brief liest, wirst Du tief in Dir furchtbar böse auf mich sein, weil ich Dir solch einen üblen Streich gespielt habe. Arthur, mein Herz, dies hier ist mein letzter Brief, und er ist zugleich das Vermächtnis meiner Liebe.
Getragen von all der Freude, die Du mir gegeben hast, schwebt meine Seele leicht davon. Das Leben ist wunderbar, Arthur, das merkt man erst, wenn es sich fortschleicht, doch man muß es jeden Tag in vollen Zügen genießen.
In manchen Momenten lässt es uns an allem zweifeln, gib Dich aber niemals geschlagen, mein Herz. Von dem Tag an, an dem Du geboren wurdest, habe ich in Deinen Augen dieses Licht gesehen, das Dich von anderen kleinen Jungen unterscheidet. Ich habe Dich hinfallen und mit zusammengebissenen Zähnen wieder aufstehen sehen, wo jedes andere Kind geweint hätte. Dieser Mut ist Deine Stärke, aber auch Deine Schwäche. Denke immer daran, Gefühle sind dazu da, geteilt zu werden, Kraft und Mut sind wie zwei Stöcke, die 135
sich gegen den wenden können, der sie nicht richtig gebraucht.
Auch Männer dürfen weinen, Arthur.
Von nun an werde ich nicht mehr da sein, um Dir Deine Fragen zu beantworten, jetzt ist der Moment für Dich gekommen, ein großer Mann zu werden.
Verliere auf der langen Reise, die Dich erwartet, niemals Deine Kinderseele, vergiss nie Deine Träume. Sie sind es, die Dein Leben bewegen werden, sie werden der Geschmack und der Duft eines jeden Morgens sein.
Bald wirst Du eine andere Form der Liebe kennen lernen als die, die Du für mich empfindest. Teile sie mit der Frau, die Dich lieben wird; die Träume, die man gemeinsam erlebt, werden zu den schönsten Erinnerungen. Die Einsamkeit aber ist ein Garten, in dem die Seele verdorrt, und die Blumen, die dort wachsen, duften nicht. Die Liebe ist köstlich, denke immer daran, dass man geben muß, um zu empfangen; denke daran, dass man eins mit sich sein muß, um lieben zu können.
Höre auf Deine innere Stimme, mein Junge, sei Deinem Gewissen und Deinen Gefühlen treu, lebe Dein Leben, Du hast nur eines. Von nun an bist Du für Dich selbst verantwortlich und für die Menschen, die Du lieben wirst. Sei aufrichtig, liebe, und bewahre Dir diesen Blick, der uns verband, wenn wir zusammen die Morgendämmerung erlebten.
Erinnere Dich an die Stunden, die wir gemeinsam damit zugebracht haben, die Rosen zu schneiden, den Mond zu betrachten, uns die Düfte der Blumen einzuprägen, den Geräuschen des Hauses zu lauschen, um sie zu verstehen. Das sind sicher einfache, manchmal altmodische Dinge, aber lass nicht zu, dass verbitterte oder hochmütige Menschen dem, der sie zu genießen versteht, diese magischen Augenblicke vergällen. Es gibt einen Namen für solche Momente, Arthur:
»Erstaunen«, und es liegt nur an Dir, ob Du Dir die Fähigkeit dazu Dein Leben lang erhalten wirst. Das ist der größte Reiz an der langen Reise, die Dich erwartet.
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Mein kleiner Mann, ich verlasse Dich jetzt, halte fest an dieser wunderschönen Welt. Ich liebe Dich, mein Schatz, Du warst mein Grund zu leben. Ich weiß auch, wie sehr Du mich liebst, und ich scheide ruhigen Herzens. Ich bin stolz auf Dich.
Deine Mama
Der kleine Junge faltete den Brief zusammen und steckte ihn in die Tasche. Er küsste seine Mutter auf die eisige Stirn und verließ das Zimmer mit festem Schritt, wie sie es ihm immer gesagt hatte. »Ein Mann, der geht, darf sich niemals umdrehen.« Er trat in den Garten hinaus, der Morgentau verströmte eine milde Kühle, er ging zu den Rosenstöcken und kniete nieder.
»Sie ist weg, sie wird nie
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