Marc Levy
wiederkommen, um eure Zweige zu beschneiden. Wenn ihr wüsstet«, sagte er, »wenn ihr nur verstehen könntet, ich habe das Gefühl, meine Arme sind so schwer.«
Die Blumen antworteten mit einem Rascheln ihrer Blütenblätter im Wind. Und da, nur da im Rosengarten, ließ er seinen Tränen freien Lauf. Antoine beobachtete die Szene von der Veranda aus.
»Lili, du bist zu früh gegangen«, murmelte er, »viel zu früh für ihn. Arthur ist jetzt allein, wer außer dir hatte Zugang zu seinem kleinen Universum? Ach, könntest du ihm doch nur die Türen zu unserer Welt öffnen.«
Dieser Tag wurde der längste in Arthurs Leben; noch spät in der Nacht saß er auf der Veranda und wahrte die Stille dieses schweren Augenblicks.
Antoine saß neben ihm, doch keiner der beiden sprach ein Wort. Versunken in die Erinnerungen, die in jedem Mauerstein steckten, lauschten sie den Geräuschen der Nacht. Ganz langsam begannen im Kopf des kleinen Mannes die Töne einer noch nie gehörten Melodie zu tanzen, mit den Achteln fielen 137
die Worte, mit den halben Noten die Adverbien, mit den Vierteln die Verben und mit den Pausen all die Sätze, die nichts mehr zu bedeuten hatten.
»Antoine?«
»Ja, Arthur.«
»Sie hat mir ihre Musik gegeben.«
Dann schlief das Kind in Antoines Armen ein.
Aus Angst, ihn zu wecken, saß Antoine lange unbeweglich da, den Arm um Arthur gelegt. Als er sich sicher war, dass er in tiefen Schlaf gesunken war, hob er ihn hoch und trug ihn zurück ins Haus. Bevor sie gegangen war, hatte Lili ihre Vorkehrungen getroffen. Ein paar Wochen nach ihrem Tod verschloss Antoine das große Haus bis auf die beiden Zimmer im Erdgeschoß, in denen er sich einrichtete und bis an sein Ende lebte. Er brachte Arthur zum Bahnhof und setzte ihn in den Zug, der ihn ins Internat brachte. Dort wurde Arthur erwachsen. Das Internat war ein freundlicher Ort, die Lehrer waren geachtet, manchmal geliebt. Lili hatte sicher den besten Platz für ihn ausgesucht. Nichts in dieser Welt, so schien es, stimmte traurig. Doch Arthur brachte die Erinnerungen mit, die seine Mutter ihm hinterlassen hatte, und füllte mit ihnen seinen Kopf bis auf den letzten Winkel. Er lernte, aus allem das Beste zu machen. Aus Lilis Grundsätzen leitete er seine Ansichten, sein Handeln, seine immer glasklaren Überlegungen ab. Er war ein ausgeglichenes Kind. Als Heranwachsender bewahrte er sich diesen Wesenszug und entwickelte eine außergewöhnliche Beobachtungsgabe. Der junge Mann, der er schließlich wurde, schien niemals unter Stimmungsschwankungen zu leiden. Er war ein durchschnittlicher Schüler, nie besonders gut, nie schlecht, seine Noten lagen immer leicht über dem Mittelmaß, außer in Geschichte, wo er hervorragende Leistungen brachte.
Um seine Versetzung am Ende eines jeden Schuljahres brauchte er sich keine Sorgen zu machen, und schließlich bekam er seinen Abschluss ohne besondere Auszeichnung.
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Eines Abends im Juni, am Ende seiner Schulzeit, wurde er zur Internatsleiterin gerufen. Sie erklärte ihm, dass seine Mutter zwei Jahre vor ihrem Tod, als sie schon um jene Krankheit wusste, die sie in sich trug, zu ihr gekommen war.
Sie hatte viele Stunden damit zugebracht, seine Erziehung bis in die kleinste Einzelheit zu regeln. Arthurs Ausbildung war weit über seine Volljährigkeit hinaus finanziert. Und bevor sie wieder abgefahren war, hatte sie Mrs. Senard, der Direktorin, verschiedene Dinge anvertraut, darunter die Schlüssel des Hauses in Carmel sowie die einer kleinen Wohnung in der Stadt. Diese war bis zum vergangenen Monat vermietet gewesen, stand aber, Lilis Wunsch entsprechend, seit dem Tag seiner Volljährigkeit für ihn bereit. Die Einkünfte aus den Mieten und der Rest ihrer Ersparnisse, die sie ihm hinterlassen hatte, waren auf ein auf seinen Namen geführtes Konto überwiesen worden. Eine ansehnliche Summe, die ihm ermöglichen würde zu studieren, und nicht nur das.
Arthur nahm das Schlüsselbund, das Mrs. Senard auf den Schreibtisch gelegt hatte. Der Anhänger war eine kleine, silberne Kugel mit einer Kerbe in der Mitte und einem winzigen Verschluss. Arthur ließ den Mechanismus aufschnappen, die Kugelhälften sprangen auseinander und ließen auf jeder Seite ein winziges Foto sichtbar werden. Das eine zeigte ihn im Alter von sieben Jahren, das andere Lili.
Arthur klappte den Schlüsselanhänger vorsichtig wieder zu.
»Was möchtest du studieren?« fragte sie.
»Architektur, ich möchte Architekt werden.«
»Wirst du nicht
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