Marc Levy
Loyalität und Freundschaft, das ist verdammt viel, und ich weiß es.«
»Ich weiß, dass du es weißt. Also, ich fahr jetzt, sonst fangen wir noch an zu heulen. Pass auf dich auf und ruf mich im Büro an.«
Ein letztes Versprechen, und der Saab verschwand hinter dem Hügel. Lauren trat auf die Veranda hinaus.
»Bekomme ich jetzt meine Führung?«
»Zuerst drinnen oder zuerst draußen?
»Zuallererst, wo sind wir hier?«
»Du bist in Lilis Haus.«
»Wer ist Lili?«
»Lili war meine Mutter, und hier habe ich die Hälfte meiner Kindheit verbracht.«
»Ist es schon lange her, dass sie gestorben ist?«
»Sehr lange.«
»Und du bist nie wieder hierher zurückgekehrt?«
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»Nie wieder.«
»Warum?«
»Komm rein, wir reden später darüber, nach der
Besichtigung.«
»Warum?« beharrte sie.
»Ich habe vergessen, dass du die Reinkarnation eines Maultiers bist. Darum!«
»Hast du diesen Ort meinetwegen wieder betreten?
»Du bist nicht das einzige Phantom in meinem Leben«, sagte er sanft.
»Es ist schwer für dich, hier zu sein.«
»Das ist nicht das richtige Wort, sagen wir, es ist wichtig für mich.«
»Und du hast es für mich getan?«
»Ich habe es getan, weil der Moment gekommen war, es zu versuchen.«
»Was zu versuchen?«
»Den kleinen schwarzen Koffer zu öffnen.«
»Und was soll das sein, der kleine schwarze Koffer?«
»Erinnerungen.«
»Verbindest du viele Erinnerungen mit diesem Ort?«
»Fast alle. Das hier war mein Zuhause.«
»Und danach?«
»Danach habe ich dafür gesorgt, dass es rasch vorüberging, danach bin ich sehr schnell erwachsen geworden.«
»Ist deine Mutter überraschend gestorben?«
»Nein, sie hatte Krebs, und sie wusste es seit langem, nur für mich kam es sehr plötzlich. Komm mit, ich zeige dir den Garten.«
Sie traten auf die kleine Freitreppe hinaus, und Arthur führte Lauren zum Meer, das an den Garten grenzte. Sie setzten sich auf die Felsen.
»Wenn du wüsstest, wie viele Stunden ich hier mit ihr gesessen habe. Wir haben die Schaumkronen der Wellen 149
gezählt und dabei Wetten abgeschlossen. Wir kamen oft, um den Sonnenuntergang anzuschauen. Viele Leute kommen hier abends für eine halbe Stunde an den Strand, um das Schauspiel zu genießen. Es sieht jeden Tag anders aus. Der Himmel nimmt immer andere Farben an, je nach der Temperatur des Meeres und der Luft und einer Menge anderer Kriterien. So wie die Leute in den Städten zu einer bestimmten Zeit nach Hause gehen, um die Nachrichten zu sehen, so verlassen sie hier ihre Häuser, um den Sonnenuntergang zu betrachten. Es ist wie ein Ritual.«
»Und wie lange hast du hier gelebt?«
»Ich war zehn, als sie starb.«
»Heute Abend wirst du mir den Sonnenuntergang zeigen!«
»Darum kommst du hier nicht herum«, gab er lächelnd zurück.
Hinter ihnen begann das Haus in den Farben des Morgens zu leuchten. An der dem Meer zugewandten Seite war der Anstrich verwittert, aber insgesamt hatte es die Jahre gut überstanden. Man sah ihm nicht an, dass es seit so langer Zeit schlief.
»Es hat sich gut gehalten«, sagte Lauren.
»Antoine war ein besessener Heger und Pfleger: Gärtner, Heimwerker, Angler, Amme, Hausmeister. Er war ein Schriftsteller, der hier gestrandet ist, und Mama hat ihn aufgenommen. Er wohnte in dem kleinen Anbau. Vor dem Flugzeugunfall meines Vaters war er ein Freund meiner Eltern.
Ich glaube, er war immer in Mama verliebt, auch als mein Vater noch da war. Ich vermute, dass sie schließlich ein Liebespaar wurden, wenn auch erst viel später. Sie hat ihm geholfen, sein Leben zu ertragen, und er ihr, mit ihrem Kummer fertig zu werden. Die beiden haben wenig miteinander gesprochen, zumindest wenn ich wach war, und doch gab es eine unglaubliche Vertrautheit zwischen ihnen. Sie verstanden sich wortlos. In ihrem gemeinsamen Schweigen 150
haben sie all die Verletzungen geheilt, die ihnen im Leben zugefügt worden waren. Zwischen diesen beiden Menschen herrschte eine wirklich verwirrende Ruhe. Als hätte jeder von ihnen das Gelübde abgelegt, Wut oder Empörung für immer aus seinem Leben zu verbannen.«
»Was ist aus ihm geworden?«
Antoine hatte Lili um zehn Jahre überlebt, eine Zeit, die er damit zubrachte, das Haus in Schuss zu halten. Lili hatte ihm Geld hinterlassen; es war typisch für sie, alles zu regeln, selbst das Unvorhersehbare. Darin war Antoine ihr ähnlich. Er starb im Krankenhaus, zu Beginn eines Winters. An einem sonnigen und kühlen Morgen war er aufgewacht und hatte sich müde
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