Marco Polo der Besessene 1
an, besprachen sich dann untereinander und verkündeten dann Urteilsspruch, Verfügung oder Schuldspruch.
Ich fand den daiwan für jemand, der nur zuschaute und zuhörte, sehr lehrreich. Wäre ich jedoch ein Missetäter gewesen, hätte ich eine Heidenangst gehabt, vor ihn zitiert zu werden. Und wäre ich ein Bürger gewesen, der sich über etwas zu beschweren hatte, hätte es schon ein überwältigendes Unrecht sein müssen, ehe ich es gewagt haben würde, es dem daiwan vorzutragen. Denn auf der offenen Terrasse direkt außerhalb des Gerichtssaals stand ein gewaltiges Kohlebecken voller Glut, über welcher ein Riesenkessel Öl erhitzt und am Sieden gehalten wurde; daneben standen kräftige Palastwachen sowie der offizielle Scharfrichter des Shah bereit, dieses zur Anwendung zu bringen. Prinzessin Falter gestand mir insgeheim ein, diese Art der Bestrafung bleibe nicht nur verurteilten Missetätern vorbehalten, sondern sei auch für jene Bürger bestimmt, die falsche Anschuldigungen und boshafte Beschwerden vortrugen, und auch für diejenigen, die falsches Zeugnis ablegten. Die kraftvoll gebauten Wachen sahen bereits einschüchternd genug aus; der Scharfrichter jedoch sollte ganz offensichtlich Schrecken verbreiten. Er trug Kapuze und Maske und war sonst in ein Gewand gekleidet, das brandrot leuchtete wie das Feuer der Hölle.
Ich wurde nur ein einziges Mal Zeuge, wie ein Missetäter tatsächlich zum Eintauchen in den Kessel verurteilt wurde. Ich meinerseits hätte ihn nicht so streng verurteilt, aber schließlich bin ich kein Muslim. Es handelte sich um einen wohlhabenden persischen Kaufmann, dessen andenun aus den vier erlaubten Ehefrauen und der üblichen Anzahl von Konkubinen bestand. Die Verfehlung, die man ihm zur Last legte, wurde laut als khalwat verkündet, was soviel heißt wie »kompromittierende Nähe«; das Wort als solches sagt nicht viel aus, doch die Einzelheiten waren einigermaßen erhellend. Dem Kaufmann wurde vorgeworfen, mit zweien seiner Konkubinen gleichzeitig zina verübt zu haben, während seine vier Frauen und eine dritte Konkubine zusehen durften -alles Umstände, die zusammengenommen nach muslimischem Gesetz haram waren.
Als ich mir die Beschuldigungen anhörte, hatte ich zwar Mitgefühl mit dem Angeklagten, wurde jedoch gleichzeitig von höchstem Unbehagen erfüllt, was meine eigene Person betraf; denn schließlich beging ich fast jede Nacht zina mit zwei Frauen, die noch nicht einmal meine Gattinnen waren. Als ich verstohlen einen Blick auf meine Begleiterin, Prinzessin Falter, warf, erkannte ich in ihrem Gesicht weder Schuld noch Angst. Allmählich kam ich durch bloßes Zuhören dahinter, daß selbst das schlimmste haram-Vergehen nach muslimischem Gesetz nicht geahndet werden kann, wenn nicht zumindest vier Augenzeugen es bestätigen können. Der Kaufmann hatte mit Absicht, aus Stolz oder aus Dummheit fünf Frauen zusehen lassen, wie er sein überragendes Können unter Beweis stellte von denen später die eine oder andere Teilnehmerin oder Zuschauerin aus Gehässigkeit oder Eifersucht oder aus irgendeinem anderen nur dem weiblichen Herzen bekannten Grunde die Anklage auf khalwat gegen ihn vorgebracht hatte. So kam es, daß die fünf Frauen, um die es ging, jetzt auch Zeuge werden mußten, wie er ergriffen wurde und -während er um sich trat und schrie -auf die Terrasse hinausgeschleift und bei lebendigem Leibe in das siedende Öl geworfen wurde. Bei dem, was sich daraufhin abspielte, möchte ich nicht verweilen.
Doch nicht alle vom daiwan erlassenen Urteile fielen so hart und ungewöhnlich aus. Manche standen auf bewunderungswürdige Weise in sehr engem Zusammenhang mit dem Verbrechen, das begangen worden war. Eines Tages wurde ein Bäcker vor Gericht gebracht und über ihn der Schuldspruch verhängt, er habe seinen Kunden Brot verkauft, welches nicht dem vorgeschriebenen Gewicht entsprach; jetzt wurde er verurteilt, in seinen eigenen Backofen gestoßen und darin zu Tode gebacken zu werden. In einem anderen Fall ging es um einen Mann, der des ganz besonderen Vergehens wegen angezeigt worden war, beim Durch-eine-Straße-Gehen auf ein Stück Papier getreten zu sein. Bei dem, der ihn beschuldigte, handelte es sich um einen Jungen, der hinter dem Mann hergegangen war, das Stück Papier aufgehoben und entdeckt hatte, daß unter anderem der Name Allahs darauf gestanden hatte. Der Beschuldigte brachte zu seiner Rechtfertigung vor, er habe diese Beleidigung des allmächtigen Allah ja nur
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