Marco Polo der Besessene 2
beide nun im Ehestand lebten, und sei es dazu auch noch so spät gekommen, die beste Zeit ihres bisherigen Lebens sei; es habe sich durchaus gelohnt, ein Leben lang darauf zu warten…
An diesem Abend stiegen wir in einer angenehmen Hankarwansarai im Schatten der Großen Mauer ab, und nachdem ich gebadet und gegessen hatte, setzte ich mich in meinem Raum nieder, um den Brief aufzumachen, den Ali mir gebracht hatte. Obwohl ich ihn Buchstaben für Buchstaben ergründen mußte -denn im mongolischen Alphabet fand ich mich immer noch nicht sonderlich gut zurecht -, brauchte ich nicht lange, ihn zu lesen, denn er bestand nur aus einer einzigen Zeile, die gedolmetscht folgendermaßen lautete: »Erwartet mich, wenn Ihr mich am wenigsten erwartet.« Die Worte hatten nichts von der Eiseskälte eingebüßt, die sie in mir auslösten, doch wurde ich ihrer nachgerade mehr überdrüssig, als daß mich die darin enthaltene Drohung beunruhigt hätte. Ich ging in Alis Raum und verlangte zu wissen:
»Die Frau, die dir diesen Brief gegeben hat. Du hättest sie doch bestimmt erkannt, selbst in verschleiertem Zustand, wenn es die Dame Chao Ku-an war…«
»Ja, aber sie war es nicht. Wobei mir übrigens einfällt: Die Dame Chao ist tot. Ich habe es selbst erst vor ein, zwei Tagen erfahren, und zwar von einem Kurier, der auf der Pferdepostenlinie reitet. Dem Kurier zufolge soll die Dame irgendeinen Liebhaber zu ihren Räumen hinausgejagt haben, der ihr Mißfallen erregt hat, und als sie hinter ihm herlief -du weißt ja, daß sie Lotusfüße hatte -, ist sie eine Treppe hinuntergestürzt.«
»Das zu hören, tut mir leid«, obwohl es das in Wahrheit nicht tat. Noch jemand, den ich von der Liste meiner Flüsterer streichen konnte. »Aber noch mal zu dem Brief, Ali. Hat es sich bei der Dame, die ihn brachte, vielleicht um eine sehr große Person gehandelt?« Ich dachte an jene übergroße Frau, die ich flüchtig in der Wohnung des Vizeregenten Achmad gesehen hatte.
Ali überlegte und sagte dann: »Möglich, daß sie größer war als ich, aber das sind die meisten Menschen. Nein, ich würde nicht sagen, daß sie sehr groß war.«
»Du hast gesagt, daß sie nicht sprach. Das läßt eigentlich vermuten, daß du sie an der Stimme erkannt hättest, nicht wahr?«
Achselzuckend sagte er: »Was soll ich dazu sagen? Da sie stumm blieb, blieb auch ich stumm. Enthält der Brief irgendeine schlechte Nachricht, Marco? Oder etwas, das dir Anlaß gibt, den Kopf hängenzulassen?«
»Das zu entscheiden, fiele mir leichter, wenn ich wüßte, woher er kommt.«
»Alles, was ich dazu sagen kann, ist, daß deine Vorausreiter vor ein paar Tagen in der Stadt eintrafen und deine unmittelbare Rückkehr verkündeten, und…«
»Warte! Haben sie sonst noch was verkündet?«
»Eigentlich nicht. Wenn die Leute fragten, wie es denn um den Krieg in Yun-nan stehe, wollten die beiden nicht so recht mit der Sprache herausrücken -sondern sagten nur, du wärest der Überbringer der offiziellen Meldung -, nur ließ ihr großspuriges Gehabe vermuten, daß es sich nur um eine Siegesmeldung handeln könne. Jedenfalls klopfte in der Nacht dieses Tages die
verschleierte Dame mit dem Brief bei mir an. Und als die beiden Männer am nächsten Morgen wieder zurückritten, habe ich mich ihnen mit Mar-Janahs Segen angeschlossen.«
Mehr war nicht aus ihm herauszuholen, und ich konnte beim besten Willen nicht auf irgendwelche Fraue n kommen, die böse auf mich wären - jetzt, wo die Dame Chao und die Zwillinge Buyantu und Biliktu tot waren. Hatte die Verschleierte für jemand anders die Botin gespielt, konnte ich mir nicht denken, für wen. Deshalb verlor ich weiter kein Wort über die Sache und zerriß den bedrückenden Brief. Wir ritten weiter und erreichten Xan-du ohne irgendwelche weiteren Zwischenfälle, seien diese nun zu erwarten oder nicht zu erwarten gewesen.
Xan-du war nur einer von vier oder fünf kleineren Palästen, die der Khakhan von Khanbalik unterhielt, allerdings der prächtigste von allen. Er hatte in den Dama-qing-Bergen ein riesiges Jagdrevier abzäunen und mit allem möglichen Wild besetzen lassen; hinzu kamen noch Jäger und Wildhüter und Treiber, die das ganze Jahr über in Dörfern rund um das Jagdgebiet herum lebten. In der Mitte des Reviers stand ein Palast von nicht geringer Größe mit den üblichen Räumlichkeiten für Versammlungen, zum Speisen und Festefeiern und Hofhalten, sowie reichlich Raum für Mitglieder der königlichen Familie samt ihren
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