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Marco Polo der Besessene 2

Marco Polo der Besessene 2

Titel: Marco Polo der Besessene 2 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gary Jennings
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bedeutet eigentlich »Gesicht« oder »Antlitz«, jedenfalls die Vorderseite des Kopfes. Da die Han sich jedoch nur selten gestatten, ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen, hat das Wort die Bedeutung von dem angenommen, was man hinter dem Gesicht fühlt und empfindet. Wollte man einen Menschen beleidigen oder bei einem Wettstreit übertreffen, gelang das am besten, wenn man es fertigbrachte, daß er »das Gesicht verliert«. Die Verle tzlichkeit seines Gefühls-Gesichts überdauerte sogar das Grab und reichte bis in alle Ewigkeit. Besaß ein Sohn die Stirn, sich in irgendeiner Weise so zu verhalten, daß er Schande über das Gefühls-Gesicht seiner noch am Leben weilenden Eltern brachte oder sie traurig machte, um wieviel mehr war es dann verwerflich, die entkörperlichten Gefühls-Gesichter der Toten zu verletzten. Infolgedessen richten alle Han ihr Leben so ein, als würden sie von allen vorhergegangenen Generationen beobachtet, unter die Lupe genommen und beurteilt. Man könnte darin noch einen nützlichen Aberglauben sehen, hätte es die Menschen angespornt, Leistungen zu vollbringen, denen ihre Ahnen Beifall gezollt hätten. Doch das war nicht der Fall. Es machte sie nur erpicht, jeglicher Mißbilligung seitens ihrer Ahnen auszuweichen. Und ein Leben, das ganz und gar der Vermeidung von etwas Unrechtem gewidmet ist, vollbringt nur selten etwas ungewöhnlich Richtiges - oder überhaupt irgend etwas. Vakh!
    3
     
    Die Stadt Su-zho, durch die wir auf unserem Weg nach Süden kamen, war bezaubernd, und es tat uns ausgesprochen leid, sie wieder verlassen zu müssen. Als wir jedoch unseren Bestimmungsort, Hang-zho, erreichten, fanden wir diesen womöglich noch schöner und liebenswerter. Es gibt einen gereimten Vers, den noch der weitest entfernt lebende Han kennt, der weder die eine noch die andere Stadt je besucht hat:
    Shang ye Tiang fang,
    Zhe ye Su, Hang!
    Was sinngemäß etwa heißt:
    Vom Himmel sind wir beide gleich weit entfernt,
    Doch zum Glück gibt's für uns Hang und Su.
    Wie ich schon sagte, hatte Hang-zho insofern Ähnlichkeit mit Venedig, als auch diese Stadt von Wasser umgeben und von Wasserstraßen durchzogen ist. Es war sowohl eine an einem Fluß als auch eine am Meer gelegene Stadt, gleichwohl jedoch keine Hafenstadt. Hang-zho lag am Nordufer des Fu-chun-Flusses, der sich hier verbreiterte und verflachte und sich dann östlich der Stadt abermals verbreiterte und in etlichen, durchaus voneinander getrennten Rinnen über ein weitausgedehntes, aus Sand und Geröll bestehendes flaches Delta hinwegführte. Dieses leere Delta erstreckte sich über mehrere hundert li von Hang-zho bis zu dem, was die meiste Zeit über der ferne Rand des Kithai-Meeres war. (Ich werde bald verdeutlichen, was ich unter »die meiste Zeit über« verstehe.) Da seegängige Schiffe diese immense sandige Untiefe nicht befahren konnten, wies Hangzho keinerlei Hafenanlagen auf außer denen, die nötig waren, um mit den vergleichsweise wenigen und kleinen Booten fertig zu werden, die den Verkehr zwischen der Stadt und dem Landesinneren aufrechterhielten.
    Sämtliche Hauptstraßen von Hang-zho waren Kanäle, die vom Fluß in die Stadt hinein-, durch sie hindurch-und um sie herumführten. Diese Kanäle verbreiterten sich an manchen Stellen zu stattlichen, heiteren und spiegelglatten Seen, in denen Inseln gelegen waren, die als öffentliche Parks dienten und nichts enthielten als Blumen und Vögel, Lustpavillons und Banner. Die kleineren Straßen der Stadt waren säuberlich gepflastert, breit, aber gewunden und nie richtig gerade; sie buckelten sich mit Hilfe reichverzierter, hochgewölbter Brücken, von denen es mehr gab, als ich je zählen könnte, über diese Kanäle hinweg. Von jeder Biegung einer Straße oder eines Kanals aus hatte man einen prachtvollen Blick auf eines der vielen hohen und wiederum reichverzierten Stadttore, einen der geschäftigen Marktplätze, ein palastartiges Gebäude oder einen Tempel, die alle bis zu zehn oder zwölf Stockwerke hoch waren und von denen auf jedem Stockwerk die charakteristischen gewölbten Dachtraufen der Han vorsprangen.
    Der Hofbaumeister von Khanbalik hatte mir einst gesagt, in den Städten der Han gäbe es deshalb keine geraden Straßen, weil die einfachen Han törichterweise glaubten, Dämonen könnten sich immer nur in gerader Linie fortbewegen, und nicht minder töricht seien zu meinen, den Dämonen den Weg zu versperren, indem man Straßen unvermittelt abknicken lasse. Doch das war

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