Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Marco Polo der Besessene 2

Marco Polo der Besessene 2

Titel: Marco Polo der Besessene 2 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gary Jennings
Vom Netzwerk:
den Achseln und wiederholten -was Yissun mir dolmetschte und ich für ein bäuerliches Sprichwort unter den Mien hielt:
    »Wenn die karbau kämpfen, wird das Gras zertrampelt.«
    Und als ich fragen ließ, ob sie es denn nicht furchtbar fänden, daß ihr König geflohen sei und sich irgendwo versteckt halte, zuckten sie abermals mit den Achseln und sagten etwas auf, das
    -wie sie erklärten - ein traditionelles Bittgebet der Landbevölkerung in diesen Landen sei: »Bewahre uns vor den fünf Erzübeln: Überschwemmung, Feuer, Dieben, Feinden und Königen.«
    Als ich bei einem Dorfschulzen, der ein etwas hellerer Kopf zu sein schien als die karbau-Ochsen des Dorfes, nachfragte, was er mir von der Geschichte der Mien berichten könne, ließ er über Yissun folgendes erklären: »Amè, U Polo! Unser großes Volk hat einst eine strahlende Geschichte und ein bedeutendes Erbe gehabt. All dies ist in Büchern in unserer dichterischen Mien-Sprache niedergelegt worden. Dann jedoch kam eine große Hungersnot über uns, da wurden die Bücher gekocht, mit Sauce übergossen und verspeist. Aus diesem Grunde erinnert sich niemand unserer Geschichte und versteht auch niemand mehr etwas vom Schreiben.«
    Weiter ließ er sich nicht aus, folglich kann auch ich nichts weiter tun als höchstens noch erklären, daß amè der Lieblingsausruf der Mien war, Verwünschung und Fluch (wiewohl das Wort nichts weiter als »Mutter« bedeutete), und U Polo ihre Art der respektvollen Anrede. Mich redeten sie mit U, Hui-sheng jedoch mit Dawan, was etwa unserem venezianischen Messere und Madona entspricht. Was die Aussage betrifft, daß ihre Geschichtsbücher »mit Sauce übergossen und verspeist« worden wären, so kann ich immerhin folgendes bestätigen. Die Mien hatten eine Sauce, die zugleich ihre Leibspeise war -und die sie nicht minder oft zu sich nahmen, als sie den Fluch amé ausstießen -und bei der es sich um eine übelriechende, widerwärtige, ganz abscheulich ekelerregende Würze handelte, die sie aus vergorenen Fischen auspreßten. Diese Sauce nannten sie nuoc-mam, und damit übergossen sie ihren Reis, ihr Schweinefleisch, ihre Hühnchen, ihr Gemüse, überhaupt alles, das sie zu sich nahmen. Da das nuoc-mam jeden anderen Geschmack überdeckte, die Mien andererseits aber alles Widerwärtige verspeisten, Hauptsache, es war nuoc-mam darübergegossen, sah ich nicht den geringsten Anlaß zu bezweifeln, daß sie ihre gesamten historischen Schriften »mit Sauce begossen und verspeist« hätten.
    Eines Abends gelangten wir in ein Dorf, dessen Bewohner auf höchst unnatürliche Weise nicht phlematisch und träge waren, sondern aufgeregt durcheinandersprangen. Es waren ausschließlich Frauen und Kinder, und so bat ich Yissun, sich zu erkundigen, was los sei und wohin denn all die Männer gegangen wären.
    »Sie sagen, die Männer haben ein badak-gajah gefangen -ein Einhorn - und würden es bald herbringen.«
    Nun, diese Nachricht erregte sogar mich. Selbst im fernen Venedig waren Einhörner dem Vernehmen nach bekannt, und manche Leute glaubten sogar, es gäbe sie; andere hielten sie für mythologische Wesen, doch die Vorstellung von einem Einhorn fanden alle reizvoll und bewundernswert. In Kithai und Manzi hatte ich viele Männer gekannt -zumal solche in bereits fortgeschrittenem Alter -, die sich einer aus zerstoßenem »Einhorn-Horn« gewonnenen Arznei zur Hebung ihrer Manneskraft bedienten. Diese Arznei war äußerst selten und kostete entsprechend sehr viel Geld; aber immerhin gab es diese Beweise dafür, daß es das Einhorn wirklich gab und daß sie so selten waren, wie es in der Legende hieß.
    Andererseits erzählte man sich die Legenden in Venedig und Kithai gleichermaßen, und die Bilder, welche die Künstler von diesem Tier malten, zeigten das Einhorn als ein wunderschönes, anmutiges, pferde-oder hirschähnliches Tier mit einem langen, spitzen, gedrehten goldenen Horn auf der Stirn. Irgendwie hegte ich Zweifel, daß es sich bei diesem Ava-Einhorn um ein und dasselbe Tier handeln könne. Es fiel ja auch schwer, sich vorzustellen, daß ein solches traumhaftes Geschöpf in diesen nachtmährhaften Dschungeln leben und sich ausgerechnet von diesen beschränkten Mien sollte fangen lassen. Außerdem lautete der Mien-Name für dieses Tier badak-gajah, was gedolmetscht nichts anderes hieß als »ein Tier, groß wie ein Elefant«, und das stimmte nun doch bedenklich.
    »Frag sie, Yissun, ob sie das Einhorn fangen, indem sie eine Jungfrau als

Weitere Kostenlose Bücher