Marco Polo der Besessene 2
Lockvogel oder Köder darauf ansetzen.«
Er fragte, und die verständnislosen Gesichter, welche diese Frage zur Folge hatte, sowie der Umstand, daß einige Frauen ein »Amè« ausstießen, bewirkte, daß ich nicht mehr erstaunt war, als sie erklärten, nein, eine solche Methode hätten sie noch nie angewandt.
»Ah«, sagte ich. »Dann sind die Einhörner also so selten, nicht wahr?«
»Nicht die Einhörner, die Jungfrauen sind so selten.«
»Nun, laß uns sehen, wie sie so ein Wesen fangen. Kann jemand uns zeigen, wo es sich jetzt befindet?«
Ein splitternackter kleiner Junge, der geradezu lebhaft vor uns herlief, führte mich und Hui-sheng sowie Yissun an eine in Flußnähe gelegene Schlammgrube. Was ich mir überhaupt nicht erklären konnte, war, warum mitten darauf lichterloh ein Feuer prasselte und sämtliche Männer nicht wie sonst stumpfsinnig dahockten, sondern einen wahren Freudentanz um dieses Feuer herum aufführten. Von einem Einhorn oder sonst einem Tier war nichts zu sehen. Yissun erkundigte sich und berichtete:
»Das badak-gajah schläft, darin dem karbau-Ochsen und der ghariyal-Schlange gleich, mit Vorliebe im kühlen Schlamm. Diese Männer hier haben heute in aller Frühe eines gefunden, von dem nur Horn und Nüstern aus dem Schlamm herausragten. Sie haben es gemacht wie sonst auch. Auf leisen Sohlen haben sie Rohr und trockenes Gras darübergehäuft und dieses in Brand gesteckt. Da ist das Tier selbstverständlich erwacht, konnte sich jedoch nicht rasch genug aus dem Schlamm befreien, bevor dieser vom Feuer ausgetrocknet wurde und eine Kruste bildete. Der Rauch hat das Einhorn dann bewußtlos gemacht.«
»Was für eine abscheuliche Art, ein Tier zu fangen, das Gegenstand so vieler Legenden ist!« rief ich aus. »Sie haben es also gefangen, nehme ich an. Und wo ist es?«
»Nicht gefangen. Es steckt immer noch drin. Im Schlamm unterm Feuer. Es wird geschmort!«
»Was?« rief ich. »Sie schmoren ein Einhorn?«
»Diese Menschen hier sind Buddhisten, und der Buddhismus verbietet es seinen Anhängern, Jagd auf wilde Tiere zu machen und sie zu töten. Was aber vermag ihre Religion, wenn so ein Tier ohnmächtig wird und von selbst schmort? Auf diese Weise können sie es verspeisen, ohne irgendeinen Frevel zu begehen.«
»Ein Einhorn essen? Ein größerer Frevel ist mir unvorstellbar!«
Doch als der Frevel endlich vollendet, die Mitte des Schlammlochs tonhart gebrannt war und die Mien die Hülle abschlugen und das gegarte Tier bloßlegten, sah ich, daß es sich gar nicht um ein Einhorn handelte -jedenfalls nicht um das Einhorn der Legende. Das einzige, was es mit den Geschichten und den Bildern gemein hatte, war sein einzelnes Horn. Doch das wuchs ihm nicht aus der Stirn, sondern auf einer häßlichen langen Schnauze oder Nase. Der Rest des Tiers war nicht weniger häßlich, allerdings bei weitem nicht so groß wie ein Elefant oder auch nur wie ein karbau. Es wies auch keinerlei Ähnlichkeit mit einem Pferd oder einem Hirsch auf oder dem Bild, das ich mir von einem Einhorn machte, oder irgend etwas, das ich je gesehen hätte. Es besaß eine ledrige Haut, die ganz aus Platten und Falten bestand und etwas von gehärtetem Panzerleder hatte. Seine Füße erinnerten entfernt an die eines Elefanten, aber seine Ohren waren nur kleine Borstenbüschel, und die lange Schnauze wies zwar eine überhängende Oberlippe, aber keinen Rüssel auf.
Das ganze Tier war durch die Garung im Schlamm schwarz geworden, so daß ich nicht sagen kann, welche Farbe es ursprünglich gehabt hat. Golden war sein Horn jedenfalls nie gewesen. Tatsächlich sah ich, als die Mien es von dem mächtigen Kopf des Tieres absägten, daß es eigentlich nicht aus Hornsubstanz bestand und auch nicht wie ein Stoßzahn aus Elfenbein. Das Ganze machte vielmehr den Eindruck von einer Zusammenballung langer Haare, die zu einem harten, schweren, spitz zulaufenden Kegel zusammengewachsen waren. Doch die Mien versicherten mir jubelnd über ihr Glück, daß dies wirklich die Quelle des »Einhorn-Horns« sei, welches die Manneskraft stärke; aus diesem Grunde würden sie auch reich dafür bezahlt werden -vermutlich mit einem großen Haufen areca-Nüsse, wie ich vermutete. Der Dorfschulze nahm das kostbare Horn an sich, und die anderen begannen, dem Tier das enorm dicke Fell abzuziehen, es zu zerlegen und die dampfenden Brocken zurückzutragen ins Dorf. Einer der Männer reichte mir und Huisheng und Yissun ein Stück von dem Fleisch -heiß aus dem
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