Marco Polo der Besessene 2
damit zubringen könnte, sich unter ihnen zu ergehen, ohne sie jemals alle zu Gesicht zu bekommen. Man hätte meinen können, die Stadt wäre die Werkstatt irgendeiner buddhistischen Gottheit, welche die Aufgabe hatte, diese sonderbar geformten Tempel herzustellen, denn es gab einen ganzen Wald von Glockengriffen, die von der Flußebene gen Himmel ragten, einige fünfundzwanzig li den Irawadi hinauf und an die sechs oder sieben li zu beiden Seiten ins Landesinnere. Stolz berichtete unser pongyi-Führer, es gebe über eintausenddreihundert solcher p'hra, eine jede vollgestopft mit Götterbildern und jeder umringt von kleineren oder größeren Bildwerken, Idolen und behauenen Säulen, die er thupo nannte.
»Was alles«, wie er sagte, »von der großen Heiligkeit dieser Stadt und der Frömmigkeit all seiner lebenden wie bereits verstorbenen Bewohner zeugt, die diese Bauten errichtet haben.
Die Reichen zahlen für ihren Bau, und die Armen finden lohnende Beschäftigung darin, das zu tun, wodurch beide Klassen sich ewige Verdienste erwerben. Was dafür verantwortlich ist, daß man hier in Pagan keine Hand und keinen Fuß rühren kann, ohne auf irgend etwas Heiliges zu stoßen.«
Ich konnte jedoch nicht umhin zu bemerken, daß nur etwa ein Drittel aller Bauten und Standbilder sich in guterhaltenem Zustand befanden, der Rest in verschiedenen Stadien des Verfalls. Und in der Tat, da die tropische Dämmerung kam und die Tempelglocken über die Ebene hinweg läuteten und die frommen Bewohner Pagans zum Gebet riefen, strömten diese nur in die wenigen besser erhaltenen p'hra, während aus den zerfallenen und zerbröckelnden nur ganze Schwärme von flatternden Fledermäusen aufstiegen, die sich wie dunkle Rauchwolken vorm violetten Himmel ausbreiteten. Ich sagte, die Frömmigkeit der Paganer sei offensichtlich nicht auf die Erhaltung der Heiligkeit gerichtet.
»Nun, wirklich, U Polo«, sagte der alte pongyi nun doch ein wenig schroff. »Unser Glaube erkennt jedem großes Verdienst zu, der ein heiliges Bauwerk errichtet, und nur geringes dem, der nur eines repariert. So kommt es, daß - selbst wenn ein wohlhabender Adliger oder Kaufmann geneigt wäre, sein Verdienst an einer Instandsetzung zu verschwenden - die Armen diese Arbeit nur ungern verrichten würden. Selbstverständlich würden alle lieber nur eine ganz kleine thupo errichten als auch noch die größte p'hra wieder instand zu setzen.«
»Ich verstehe«, sagte ich trocken. »Eine Religion guter Geschäftspraktiken.«
Da der Abend rasch näherrückte, kehrten wir in den Palast zurück. Wir hatten unseren Spaziergang, wie Bayan gesagt hatte, zu einer Zeit gemacht, da es für Ava kühl war. Trotzdem fühlten Hui-sheng und ich uns bei der Heimkehr verschwitzt und verstaubt, und so beschlossen wir, auf Bayans Einladung zu verzichten, ihm bei der abendlichen Vorführung des nicht endenwollenden Spiels Gesellschaft zu leisten. Wir begaben uns statt dessen geradenwegs in unsere eigene Wohnung und trugen unserer Thai-Dienerin Arùn auf, uns noch ein Bad zu bereiten. Als die gewaltige Teak-Wanne voll war mit Wasser, das nach miada-Gras duftete und mit gomuti-Zucker gesüßt war, wickelten wir uns beide aus unserer Seide und stiegen gemeinsam hinein.
Waschlappen und Bürsten, Salben und ein kleines Stück Palmölseife in den Händen, zeigte das Mädchen lächelnd auf mich und sagte: »Kaublau«, lächelte dann nochmals, zeigte auf Hui-sheng und sagte: »Saon-gam«. Später erfuhr ich auf Nachfrage bei anderen, die Thai sprachen, daß sie mich als »hübsch« und Hui-sheng als »strahlend schön« bezeichnet hatte. Diesmal jedoch konnte ich - genauso wie Hui-sheng -nur verwundert die Augenbrauen in die Höhe schieben, denn jetzt entledigte sich Arùn gleichfalls ihrer Hülle und schickte sich an, zu uns in das warme Wasser zu steigen. Als sie sah, daß wir uns verblüfft und überrascht ansahen, hielt das Mädchen inne und erging sich in einer ausgedehnten Pantomime, um uns zu erklären, um was es gehe. Die meisten Fremden hätten das vielleicht nicht begriffen, doch da Hui-sheng und ich uns mittlerweile sehr gut in der Zeichensprache auskannten, begriffen wir, daß das Mädchen sich entschuldigte, sich nicht gleich bei unserem ersten Bad zusammen mit uns entkleidet zu haben. Sie gab uns zu verstehen, dazu wären wir einfach »zu schmutzig« gewesen, uns nackt aufzuwarten, wie es eigentlich von ihr erwartet werde. Wenn wir ihr verziehen, sich uns beim erstenmal entzogen zu
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