Marco Polo der Besessene 2
schon einmal gewesen waren. Aus diesem Grunde hielten mein Vater und ich ständig nach Dingen Ausschau, die sich seither verändert hatten. Zumeist übernachteten wir nur, doch als wir nach Kashan gelangten, ordneten mein Vater und ich einen Tag Aufenthalt an, damit wir durch die Stadt streifen konnten, wo wir zuvor Rast gemacht hatten, ehe wir ins gefährliche Dasht-e-Kavir aufgebrochen waren. Wir nahmen auf unseren Gängen auch Onkel Mafìo mit, da wir einen Funken Hoffnung hatten, diese Bilder aus der Vergangenheit könnten ihn ein wenig wieder zu dem machen, was er einst gewesen war. Aber nichts in Kashan brachte ein Aufleuchten in seine trüben Augen, nicht einmal die prezioni-Knaben und jungen Männer, nach wie vor der am meisten ins Auge fallende Aktivposten der Stadt.
Wir suchten das Haus und die Stallungen auf, in denen die freundliche Witwe Esther uns Unterkunft gewährt hatte. Das Anwesen befand sich jetzt im Besitz eines Mannes, eines Neffen von ihr, der es vor Jahren geerbt hatte, als die gute Dame gestorben war. Er zeigte uns, wo sie begraben lag -nicht auf irgendeinem jüdischen Friedhof, sondern - in ihrem Kräutergarten hinter ihrer eigenen Wohnung. Dort hatte ich sie beobachtet, wie sie mit ihrem Pantoffel Skorpione erschlug und mich eindringlich aufforderte, keine Gelegenheit ungenutzt verstreichen zu lassen, »alles zu kosten, was diese Welt zu bieten hat«.
Mein Vater bekreuzigte sich voller Hochachtung und ging dann mit Onkel Mafìo weiter, sich in den Kashaner kashi-Werkstätten umzusehen, die ihn auf die Idee gebracht hatten, so etwas auch in Kithai einzurichten, was zu nicht geringen Einnahmen für die Compagnia Polo geführt hatte. Ich jedoch blieb eine Weile beim Neffen der Witwe, betrachtete nachdenklich ihr kräuterbewachsenes Grab und sagte (freilich nicht laut):
»Ich bin Eurem Rat gefolgt, Mirza Esther. Ich habe keine Gelegenheit ausgelassen. Nie habe ich gezögert zu gehen, wohin meine Neugierde mich führte. Ich bin bereitwillig dorthin gegangen, wo Gefahr in der Schönheit lauerte und Schönheit in der Gefahr. Wie Ihr voraussagtet, habe ich Erfahrungen in Hülle und Fülle gemacht. Viele davon waren erfreulich, manche lehrreich, auf ein paar würde ich heute lieber verzichten. Aber ich habe sie gemacht, und sie stehen mir immer noch in der Erinnerung. Sollte ich denn morgen in mein Grab steigen, wird es kein schwarzes, schweigendes Loch sein. Ich kann das Dunkel mit lebhaften Farben ausmalen und es mit Musik sowohl der martialischen als auch der schmachtend gefühlvollen Art anfüllen, mit Schwerterblitzen und erregten Küssen, Dingen, die ich schmecke, mit Aufregungen und Sensationen, mit dem Duft eines von der Sonne erwärmten Kleefelds, über das ein sanfter Regen dahingeht, dem Süßesten, das Gott je auf dieser Erde erschaffen hat. Jawohl, ich habe genug, die Ewigkeit für mich lebendig zu machen. Andere mögen sie ertragen -ich werde sie genießen können. Und dafür danke ich Euch, Mirza Esther, ich möchte Euch shalom wünschen… doch glaube ich, auch Ihr würdet nicht glücklich sein in einer Ewigkeit, in der es nichts weiter gibt als Frieden…«
Ein schwarzer Kashaner Skorpion kam den Gartenweg entlanggekrochen, und ich zertrat ihn für sie.
Dann wandte ich mich an den Neffen und sagte: »Eure Tante hatte damals eine Dienerin namens Sitaré…«
»Das ist noch etwas, das sie auf dem Sterbebett verfügt hat. Jede alte Frau ist im Grunde ihres Herzens eine Kupplerin. Sie hatte für Sitaré einen Mann gesucht und sie in diesem Hause vor ihrem Tode verheiratet. Neb Efendi war ein Schuster, ein guter Handwerker und ein guter Mann, obwohl er ein Muslim war. Außerdem war er ein Turk-Einwanderer, so daß er hier in Kashan nicht sonderlich beliebt war. Dafür war er auch nicht
hinter Knaben her und Sitaré ein guter Gatte.«
»War?«
»Sie sind kurz danach von hier fortgezogen. Er war nicht von hier, und offenbar ziehen die Menschen es vor, sich ihre Schuhe von Landsleuten machen und besohlen zu lassen, selbst wenn die nicht viel von ihrem Handwerk verstehen. Deshalb nahm Neb Efendi seine Ahlen und Leisten und seine neue Frau und zog davon -nach Kappadozien, glaube ich, wo er zu Hause war. Ich hoffe, sie sind dort glücklich. Es ist schon lange her.«
Nun, ich war ein bißchen enttäuscht, Sitaré nicht wiederzusehen, aber eben nur ein bißchen. Sie war inzwischen bestimmt eine Matrone, wohl so alt wie ich, und ihr Anblick hätte leicht eine noch größere
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