Margaret Mitchell
ihre Haut sich prachtvoll ab, aber es machte sie älter
aussehen. Scarlett warf einen ängstlichen Blick in den Spiegel auf ihr
sechzehnjähriges Gesicht, als vermutete sie darin Runzeln und hängende
Kinnfalten. Auf keinen Fall durfte sie neben Melanies reizender Jugendlichkeit
alt und würdig aussehen. Das Musselinkleid mit den lavendelfarbenen Streifen
und den breiten Einsätzen von Spitzen und Filet war prachtvoll, aber es paßte
nicht zu ihrer Erscheinung. Carreens zartem Profil und unfertigem Ausdruck
mußte es vorzüglich stehen, Scarlett selbst kam sich darin wie ein Schulmädchen
vor. Das grünschottische Taftkleid mit all seinen rauschenden Falten, deren
jede mit grünem Samtband eingefaßt war, war höchst kleidsam und eigentlich ihr
liebstes, denn es machte ihre Augen dunkel wie Smaragde. Ein unverkennbarer
Fettfleck saß jedoch gerade vorn auf der Taille. Sie konnte ihn natürlich mit
einer Brosche zudecken, aber Melanie hatte scharfe Augen! Dann waren noch
verschiedene bunte Waschkleider da, in denen Scarlett sich jedoch nicht
festlich genug für diese Gelegenheit fühlte, einige Ballkleider und das grüne,
geblümte Musselinkleid, das sie gestern getragen hatte. Aber das war ein
Nachmittagskleid und für ein Gartenfest nicht passend. Es hatte nur winzige
Puffärmel und war am Halse so tief ausgeschnitten wie ein Tanzkleid. Und doch
blieb ihr nichts übrig, als es anzuziehen. Schließlich brauchte sie sich ihres
Halses, ihrer Arme, ihres Busens nicht zu schämen, wenn es auch nicht ganz
passend war, sie schon vormittags zu zeigen.
Als sie
dann vor dem Spiegel stand und sich drehte und wendete, fand sie, daß an ihrer
Figur wahrlich nichts zu verstecken sei. Ihr Hals war kurz, aber schön gebogen,
die Arme lockend und voll. Die Brust, die das Korsett hochschob, war sehr
hübsch. Nie hatte sie feine Seidenrüschen ins Taillenfutter zu nähen brauchen
wie die meisten Mädchen ihres Alters, um damit ihrer Figur die gewünschte
Rundung zu geben. Sie war froh, daß sie Ellens schlanke Hände und Füße geerbt
hatte, und wünschte sich Ellens Größe dazu, obwohl sie mit ihrem eigenen
kleineren Wuchs durchaus nicht unzufrieden war. »Schade, daß man die Beine
nicht zeigen darf«, dachte sie und zog die Unterröcke empor. Da schauten sie
unter den Spitzenhöschen hervor, gut geformt und gerundet, beängstigend hübsch.
Sogar auf der Töchterschule in Fayetteville hatten die Mädchen zugeben müssen,
daß sie hübsche Beine hatte. Und nun erst ihre Taille - in allen drei Provinzen
gab es keine schlankere!
Ihre
Taille brachte sie wieder auf praktische Gedanken. Das grüne Musselinkleid maß
um den Gürtel dreiundvierzig Zentimeter, und Mammy hatte sie für das
fünfundvierzig Zentimeter weite Bombasinkleid geschnürt. Mammy mußte sie fester
schnüren. Sie öffnete die Tür und rief ungeduldig nach ihr. Sie durfte
ungestraft ihre Stimme erheben, denn Ellen war in der Vorratskammer und teilte
der Köchin die Vorräte für den Tag zu.
»Einige
Leute denken immer, ich kann fliegen«, knurrte Mammy und schlurfte die Treppe
hinauf. Keuchend trat sie ein mit dem Gesicht eines Menschen, der auf einen
Kampf gefaßt ist und sich darauf freut. In den großen schwarzen Händen trug sie
ein Tablett mit dampfenden Speisen, zwei großen Bataten mit Butter darüber,
einem Häufchen Buchweizenkuchen, von denen der Sirup herabtroff, und einer
großen Scheibe Schinken in einer fetten Sauce. Als Scarlett sah, was Mammy in
der Hand trug, wechselte ihr Ausdruck von leichtem Ärger zu Eigensinn. In ihrer
Aufregung hatte sie Mammys eherne Regel vergessen, nach der die O'Haraschen
Mädchen vor jeder Gesellschaft daheim so viel essen mußten, daß sie dort keiner
Erfrischung mehr bedurften.
»Es hat
keinen Zweck, ich esse nicht, du kannst es wieder in die Küche bringen.«
Mammy
setzte das Tablett auf den Tisch und stellte sich in Positur. »Du ißt. Ich will
es nicht noch einmal erleben, was bei dem letzten Gartenfest passierte, als ich
von Schwarzsauer so krank, daß ich dir kein Essen bringen können, hiervon du
mir aufessen jeden Bissen!«
»Fällt mir
nicht ein! Komm lieber her und schnüre mich fester, sonst kommen wir zu spät.
Da kommt schon der Wagen vorgefahren.«
Mammy
verfiel in schmeichlerische Töne: »Miß Scarlett, sei lieb und nur ein kleines
bißchen essen. Miß Carreen und Miß Suellen haben ihrs alles aufgegessen.«
»Das sieht
ihnen ähnlich«, sagte Scarlett verächtlich. »Die haben nicht mehr Mut als
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