Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Margaret Mitchell

Margaret Mitchell

Titel: Margaret Mitchell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vom Winde verweht
Vom Netzwerk:
kannte sie ihn nicht. Der Mann, der sie im Finstern die
Treppe hinaufgetragen hatte, war ein fremder Mann, von dessen Dasein sie keine
Ahnung gehabt hatte, und obwohl sie jetzt versuchte, ihn zu hassen, vermochte
sie es doch nicht. Er hatte sie erniedrigt und geschändet, er hatte sie eine
wilde, tolle Nacht lang gewaltsam genommen, und ihr war es eine Wonne gewesen.
    Ach, sie
sollte sich schämen und vor dem Gedanken an das Geschehene das Haupt verhüllen.
Eine Dame, eine wirkliche Dame, konnte nach solcher Nacht den Kopf nie wieder
hochhalten. Aber stärker als die Scham war der Nachklang der Wonne, der seligen
Hingabe. Zum erstenmal in ihrem Leben hatte sie sich lebendig gefühlt und eine
hinreißende, urgewaltige Leidenschaft empfunden, so gewaltig wie damals die
Angst, da sie aus Atlanta floh, so schwindelerregend, daß es nur mit dem kalten
Haß verglichen werden konnte, mit dem sie auf Tara den Yankee niedergeschossen
hatte.
    Rhett
liebte sie. Wenigstens hatte er es gesagt, und wie konnte sie noch daran
zweifeln? Wie seltsam und befremdlich, wie unglaublich, daß er sie liebte,
dieser fremde Wüstling, neben dem sie so kühl gelebt hatte. Sie wußte nicht
recht, was sie von dieser Entdeckung halten sollte. Da ging ihr etwas auf,
worüber sie auf einmal laut lachen mußte. Er liebte sie, und nun hatte sie ihn
also endlich in ihrer Gewalt! Fast hatte sie vergessen, wie sie ihn schon
früher hatte umgarnen wollen, damit sie über seinem unverschämten schwarzen
Kopf die Peitsche schwingen könnte. Nun kam ihr die Lust daran zurück und tat
ihr wohl. Eine einzige Nacht war sie auf Gnade und Ungnade sein gewesen, aber
jetzt hatte sie die schwache Stelle in seiner Rüstung erkannt. Nun hatte sie
ihn so weit, wie sie ihn haben wollte.
    Bei der
Vorstellung, ihm in nüchternem Tageslicht Aug' in Auge wieder zu begegnen,
befiel sie eine nervöse, prickelnde Scheu, die aber voll erregenden Genusses
war.
    »Ich
ängstige mich wie eine Braut«, dachte sie, »und das vor Rhett.« Bei diesem
Gedanken fing sie an wie närrisch zu kichern.
    Aber Rhett
erschien nicht zu Tisch, und auch beim Abendessen saß er nicht an seinem Platz.
Die Nacht verging, eine lange Nacht, in der sie bis zum Morgengrauen wach lag
und horchte, ob nicht die Haustür ginge. Aber er kam nicht. Als der zweite Tag
ohne eine Nachricht von ihm verfloß, war sie außer sich vor Enttäuschung und
Angst. Sie ging zur Bank, er war nicht da. Sie ging in den Laden, und sobald
die Tür sich öffnete und ein Kunde eintrat, blickte sie klopfenden Herzens auf
und hoffte, es wäre Rhett. Sie fuhr zum Holzlager und schalt mit Hugh, bis er
sich hinter einem Bretterstapel versteckte. Aber Rhett suchte auch dort nicht
nach ihr.
    Sie konnte
es nicht über sich gewinnen, bei Freunden zu fragen, ob man ihn gesehen hätte.
Unmöglich konnte sie sich bei den Dienstboten nach ihm erkundigen, obwohl sie
das Gefühl hatte, sie wüßten alle etwas, was sie nicht wußte. Die Neger wußten
immer alles. Mammy war in diesen Tagen ungewöhnlich still. Sie beobachtete
Scarlett aus den Augenwinkeln und sagte nichts. Als die zweite Nacht vorüber
war, entschloß sich Scarlett, zur Polizei zu gehen. Vielleicht hatte er einen
Unfall gehabt, vielleicht hatte sein Pferd ihn abgeworfen, und er lag irgendwo
hilflos im Graben. Vielleicht - schrecklicher Gedanke -, vielleicht war er tot.
    Als sie
nach dem Frühstück in ihr Zimmer ging und sich den Hut aufsetzte, vernahm sie
einen raschen Schritt auf der Treppe. Ganz matt vor Dankbarkeit sank sie aufs
Bett. Da trat Rhett herein, frisch rasiert und frisiert, nüchtern, aber mit
blutunterlaufenen Augen und vom Tranke gedunsenem Gesicht. Er grüßte sie
obenhin mit der Hand und sagte: »Hallo.«
    Wie konnte
der Mann einfach »Hallo« sagen, nachdem er zwei Tage ohne jede Erklärung
weggeblieben war? Wie konnte er die Erinnerung an eine solche Nacht so nebensächlich
abtun? Das konnte er nur, wenn - ein schreckliches Licht ging ihr auf -, wenn
solche Nächte für ihn nichts Besonderes waren. Sie brachte kein Wort hervor,
und all die hübschen Bewegungen, all das reizende Lächeln, womit sie sich an
ihm hatte versuchen wollen, waren vergessen. Er kam nicht einmal zu ihr, um ihr
den üblichen flüchtigen Kuß zu geben, sondern schaute sie nur mit seiner
glimmenden Zigarre in der Hand grinsend an.
    »Wo ... wo
bist du gewesen?«
    »Binde mir
doch nicht auf, daß du es nicht weißt! Ich dachte, die ganze Stadt wüßte es
inzwischen. Aber vielleicht

Weitere Kostenlose Bücher