Margos Spuren
war ich fast am Ocala National Forest, in einem Gebiet, das nicht mehr zum Großraum Orlando gehörte. Es waren nur noch wenige Kilometer, als Ben anrief.
»Was gibt es?«
»Du klapperst die Geisterstädte ab, oder?«, fragte er.
»Ja, ich bin fast bei der letzten. Immer noch nichts Neues.«
»Hör zu, Alter, Radars Eltern mussten dringend weg.«
»Ist was passiert?«, fragte ich. Ich wusste, dass Radars Großeltern uralt waren und in einem Altersheim in Miami lebten.
»Erinnerst du dich an den Typen in Pittsburgh mit der zweitgrößten Sammlung schwarzer Weihnachtsmänner der Welt?«
»Ja?«
»Er hat ins Gras gebissen.«
»Du machst Witze.«
»Alter, wenn es um schwarze Weihnachtsmänner geht, mache ich keine Witze. Er hatte einen Schlaganfall, und jetzt fliegen Radars Eltern rauf nach Pennsylvania und versuchen sich seine Sammlung unter den Nagel zu reißen. Und wir haben ein paar Leute eingeladen.«
»Wer ist wir?«
»Du und ich und Radar. Wir sind die Gastgeber.«
»Ich weiß nicht«, sagte ich.
Es entstand eine Pause, und dann redete Ben mich mit meinen vollen Namen an. »Quentin«, sagte er. »Ich weiß, dass du sie finden willst. Ich weiß, dass sie für dich das Wichtigste auf der Welt ist. Das ist okay. Aber wir haben nur noch eine Woche Schule. Ich sage nicht, dass du die Suche aufgeben sollst. Ich sage nur, du sollst mit deinen zwei besten Freunden, die du dein halbes Leben lang kennst, eine Party feiern. Ich sage, sei ein braves Kind und trink zwei, drei Stunden süße Bowle mit uns, und dann kotzt du zwei, drei Stunden, und dann kannst du wieder losziehen und deine Nase in stillgelegte Bauruinen stecken.«
Es nervte mich, dass Ben nur über Margo redete, wenn für ihn was dabei raussprang, und dass er mir vorwarf, ich würde ihretwegen meine Freunde vernachlässigen, dabei wurde sie vermisst und nicht Radar oder Ben. Aber wie Radar gesagt hatte – so war Ben eben. Und nach Logan Pines wusste ich sowieso nicht, wo ich noch suchen sollte. »Ich sehe mir diese eine Stelle noch an, dann komme ich rüber.«
Weil Logan Pines die letzte Geistersiedlung in Central Florida war – zumindest die letzte, von der ich wusste –, hatte ich große Hoffnungen darauf gesetzt. Doch als ich mit der Taschenlampe die einzige Straße abschritt, fand ich kein Zelt. Kein Lagerfeuer. Keine Müsliriegelpackung. Keine Spur von Menschen. Keine Margo. Am Ende der Straße war ein einziges Kellerfundament, sonst nichts, nur das Loch im Boden wie ein aufgerissenes Maul, und überall wuchs Dornengestrüpp und hüfthohes Gras. Falls Margo gewollt hatte, dass ich diese Orte aufsuchte, wusste ich nicht, warum. Und falls sie in die Geistersiedlungen gefahren war, um nie mehr zurückzukommen, dann kannte sie einen Ort, den ich bei meinen Recherchen übersehen hatte.
Ich brauchte eineinhalb Stunden zurück nach Jefferson Park. Den Kleinbus stellte ich zu Hause ab, dann zog ich mir ein Polohemd und meine einzige gute Jeans an und ging zu Fuß über den Jefferson Way zur Jefferson Court Street, rechts in die Jefferson Road und zum Jefferson Place, wo Radar wohnte. Ein paar Autos standen bereits am Straßenrand. Es war erst Viertel vor neun.
Im Flur kam mir Radar mit einem Armvoll schwarzer Gipsweihnachtsmänner entgegen. »Muss die Schönen wegräumen«, sagte er. »Gnade uns Gott, wenn einer kaputtgeht.«
»Brauchst du Hilfe?«, fragte ich. Radar nickte zum Wohnzimmer, wo auf den Couchtischen rechts und links vom Sofa drei Sets schwarzer Weihnachtsmann-Matrjoschka-Puppen standen. Als ich die Weihnachtsmänner ineinandersteckte, fiel mir auf, wie hübsch sie waren – handbemalt und unglaublich detailreich. Doch ich behielt die Beobachtung für mich, denn Radar hätte mich wahrscheinlich mit der schwarzen Weihnachtsmann-Stehlampe erschlagen.
Ich brachte die Matrjoschka-Puppen ins Gästezimmer, wo Radar dabei war, schwarze Weihnachtsmänner sorgfältig in der Kommode zu verstauen. »Wenn ich so viele schwarze Weihnachtsmänner auf einem Haufen sehe, muss ich unsere weiße Mythenbildung total infrage stellen«, sagte ich.
Radar verdrehte die Augen. »Ja, das mache ich auch jeden Morgen, wenn ich mit meinem Schwarzer-Weihnachtsmann-Löffel Schokopops esse.«
Plötzlich legte mir jemand die Hand auf die Schulter und drehte mich um. Es war Ben, der im Zeitraffer von einem Fuß auf den anderen hüpfte, als müsste er dringend pinkeln. »Wir haben uns geküsst! Ich meine, sie hat mich geküsst. Vor zehn Minuten. Auf dem
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