Margos Spuren
College-Radiosender, dessen Sendebereich wir bereits verlassen haben. Aber von dieser Rolle hat er sich bald verabschiedet, um seiner wahren Berufung nachzukommen : Er muss pinkeln.
»Ich muss pinkeln«, sagt er um 15 :06 Uhr. Wir sind seit dreiundvierzig Minuten unterwegs. Wir haben noch ungefähr einen Tag Fahrt vor uns.
»Tja«, sagt Radar. »Die gute Nachricht ist, wir machen bald einen Zwischenstopp. Die schlechte Nachricht ist, bald heißt in vier Stunden und dreißig Minuten.«
»Ich glaube, das halte ich aus«, sagt Ben. Um 15 :10 Uhr sagt er : »Ich muss doch dringend pinkeln. Wirklich.«
Im Chor antworten wir : »Verkneif’s dir.« Er sagt : »Aber ich …« Der Chor wiederholt : »Verkneif’s dir!« Fürs Erste ist es lustig : Bens Bedürfnis zu pinkeln gegen unser Bedürfnis weiterzufahren. Er lacht, aber dann beschwert er sich, dass er vom Lachen noch dringender muss. Lacey klettert auf die mittlere Bank und kitzelt ihn von hinten. Er lacht und quietscht, und ich lache auch und versuche dabei die Geschwindigkeit bei konstant einhundertsechzehn zu halten. Nebenbei frage ich mich, ob Margo uns zufällig oder absichtlich zu dieser Reise angestiftet hat. So oder so, ich amüsiere mich so gut wie lange nicht mehr – nämlich seit ich das letzte Mal Stunden am Steuer eines Kleinbusses verbracht habe.
Zweite Stunde
Ich sitze immer noch am Steuer. Wir schlängeln uns der Länge nach durch Florida, auf der I-95 nach Norden, parallel zur Küste, aber nicht direkt am Meer. Hier sind überall Kiefern, die hoch und dünn wachsen, baugleich mit mir. Aber vor allem ist da die Straße, die anderen Autos, Überholen und Überholtwerden, immer daran denken, wer vor dir ist und wer hinter dir, wer näher kommt und wer davonzieht.
Lacey und Ben sitzen zusammen auf der mittleren Bank und Radar sitzt ganz hinten, und sie spielen eine bescheuerte Variante von Ich-sehe-was-was-du-nicht-siehst, bei der man nur Sachen sehen darf, die man gar nicht sehen kann.
»Ich sehe was, was du nicht sehen kannst, und das ist beinahe tragisch cool«, sagt Radar.
»Meinst du die Art, wie Ben nur mit dem rechten Mundwinkel lächelt?«, fragt Lacey.
»Nein«, sagt Radar. »Und sei nicht so schmalzig zu Ben. Das ist echt widerlich.«
»Meinst du die Tatsache, dass du unter dem Talar keine Unterwäsche anhast und im Auto nach New York fährst und die Leute in den anderen Autos denken, du hast ein Kleid an?«
»Nein«, sagte Radar. »Das ist nur tragisch.«
Lacey lächelt. »Du wirst Kleider noch zu schätzen lernen. Die frische Luft.«
»Ich weiß es«, rufe ich aus dem Cockpit. »Du meinst eine vierundzwanzigstündige Reise in einem Kleinbus. Cool, weil Autoreisen immer cool sind; tragisch, weil das Benzin, das wir versaufen, den Planeten zerstört.«
Radar sagt Nein, und die anderen raten weiter. Ich fahre und halte das Tempo von hundertsechzehn und bete, dass ich keinen Strafzettel bekomme, und rate mit. Die tragisch coole Sache, die Radar meint, ist, die Leihfrist für geliehene Talare zu überziehen. Dann rausche ich an einem Polizeiwagen vorbei, der auf dem Grasstreifen in der Mitte steht. Erschrocken klammere ich mich ans Lenkrad, fest überzeugt, dass der Polizist die Verfolgung aufnimmt und uns aus dem Verkehr zieht. Doch er rührt sich nicht. Vielleicht weiß er, dass ich nur deshalb zu schnell fahre, weil ich muss.
Dritte Stunde
Ben sitzt wieder vorne. Ich fahre immer noch. Alle haben Hunger. Lacey verteilt an jeden einen Streifen Spearmint-Kaugummi, aber das ist ein schwacher Trost. Sie macht eine ellenlange Liste von allem, was wir bei unserem ersten Stopp an der BP-Tankstelle kaufen müssen. Bleibt zu hoffen, dass die BP-Tankstelle außergewöhnlich gut sortiert ist, denn wir haben vor, richtig abzuräumen.
Ben zappelt mit den Beinen.
»Kannst du das lassen?«
»Ich muss seit drei Stunden pinkeln.«
»Hast du schon mal gesagt.«
»Der Urin steht mir bis zum Brustkorb«, sagt er. »Ganz im Ernst, ich bin voll bis obenhin. Alter, im Moment bestehen siebzig Prozent meines Körpergewichts aus Pipi.«
»M-hm«, sage ich mit einem schwachen Lächeln. Es ist zwar lustig, aber ich bin müde.
»Ich habe das Gefühl, wenn ich weinen würde, würde ich Urin weinen.«
Damit kriegt er mich. Ich lache ein bisschen.
Als ich das nächste Mal zu ihm rübersehe, hat Ben die Hand im Schritt, so dass sich der Talar bauscht.
»Was soll das?«, frage ich.
»Mann, ich muss mal. Ich drücke die Leitung ab.« Er
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