Maria, ihm schmeckts nicht!
Antonio und schiebt seine Tasse beiseite. »Nu könne wir gehen.«
»Fahren wir nach Hause?«, frage ich. Noch einen
weiteren Tag kann ich nicht wegbleiben, will aber
auch wissen, was in den vergangenen knapp dreißig
Jahren mit Antonio passiert ist.
»Nix passierte. Nix Wichtiges. Alles Wichtige habbi dir erzählte. Jetzt kommte nix mehr, nur: Amen.«
Dabei bekreuzigt er sich und lacht kurz.
Heftige Umarmung mit Daniele, auch von mir, und
dann steigen wir die Altstadt hinab, gehen ein letztes Mal amVicoVaglia No. 9 vorbei. Antonio klopft an
die Hauswand und sagt: »So, nun mussi nie wieder
hierher kommene.«
»Warum nicht? Ist doch schön hier.«
»Ja, schön iste, aber iste Vergangeheit. Seit heute iste für mich Vergangeheit. Und Vergangeheit iste
wie dumme Salat, kann man nix mit anfangene.«
Wir packen unsere Koffer und Nonna Anna schenkt
mir zum Abschied einen panettone, den ich im Fuß-
raum des Beifahrersitzes verstaue. Noch am selben
Abend fahren wir nach Hause. Das heißt: Antonio
fährt. Ich liege auf dem Rücksitz und kann nicht
schlafen. Ich denke über meinen Schwiegervater nach.
Und über Calogero. Über das Fremdsein. Ich bin jetzt als einziger Mensch mit Antonios Geschichte vertraut.
Ich bin ihm nicht mehr fremd. Das ist eine große Ehre.
Da kann man auch mal mit sechzig Stundenkilome-
tern über den Brenner fahren, ohne zu meckern.
Elf
Ich bin zu müde, um Sara alle Details meiner Reise
mit Antonio zu erzählen. Probehalber frage ich sie
jedoch, ob ihr der Name Piselli bekannt vorkomme.
Ob sie schon einmal etwas von einem Baffone gehört
habe und ob ihr das Restaurant Kombüse in Oldenburg etwas sage. Sie verneint, und auf meine Frage, was ihr Vater denn in den vergangenen dreißig Jahren von seiner Kindheit und Jugend erzählt habe,
antwortet sie:
»Ich weiß eigentlich nur, dass er irgendeinem
verarmten Adelsgeschlecht aus Sizilien angehört und sich schon in seiner Jugend bei den Sozialisten enga-giert hat. Und dass er nach Deutschland gekommen
ist, um Maschinenbau zu studieren, irgendwo in
Ostfriesland.« Was wir denn die ganze Zeit da unten gemacht hätten, will sie wissen.
»Wir haben Kaffee getrunken.«
»Und? Was noch?«
»Männergespräche geführt. Mit Daniele. Freund
von mir. Er hat ’ne Bar.«
Sara zeigt mir einen Vogel, sie weiß ja nicht, dass ich die Wahrheit sage. Also gebe ich ihr eine Kurzfas-sung und sehe meine Post durch. Es kommt mir vor,
als sei ich dreißig Jahre fort gewesen.
Die Reise ist dann auch bald vergessen. Im No-
vember entschließen wir uns, das Weihnachtsfest in
Campobasso zu verbringen. Wir haben die Zusage
eine ganze Weile hinausgezögert, nachdem uns ein
Päckchen erreicht hat, in dem ein kleiner panettone liegt sowie ein kurzer Brief mit der Einladung, über Weihnachten nach Italien zu kommen. Panettone
sieht aus wie der Versuch, aus Bauschaum, Rosinen
und Zitronat einen Kuchen zu backen – und er
schmeckt auch so. Selbst mit viel Butter habe ich
nach dem Genuss eines Stückchens einen Husten, als
litte ich an Pseudokrupp.
Den panettone, den Nonna Anna mir bei der Abreise im Sommer schenkte, habe ich folgerichtig
komplett aushärten lassen und schließlich im Sep-
tember entsorgt, kurz bevor uns ihr Brief mit dem
neuen panettone erreichte. Offenbar geht sie davon aus, dass ich panettone liebe, und es kann auch gut sein, dass ich eine diesbezügliche Frage einmal be-jaht habe. Kann mich aber nicht daran erinnern, weil ich vorsichtshalber immer eher ja als nein sage, wenn ich in Italien etwas gefragt werde. Und das ist ziemlich oft.
Eine Reise nach Campobasso muss gut geplant wer-
den, das wissen wir von unseren bisherigen Besuchen.
Es gilt, innerhalb von einer Woche alle abzuklap-
pern, wobei ein außerordentliches Fingerspitzen-
gefühl vonnoten ist, denn auch unter den Carduccis
gibt es ein paar sehr nette Exemplare, die Sara ger-ne sehen möchte, was jedoch die Marcipanes besser
nicht erfahren dürfen, weil sie uns sonst für Agenten des Bösen halten. Die Taliban-Fraktion der Familie
Marcipane, zu der auch Nonna Anna gehört, würde
uns dann verfluchen und wir müssten am Ende
Wassertropfen durchschneiden, um uns davon zu
befreien.
Längst hat zwar auch das letzte gemeinsame Gen
die Familien verlassen, so dass Frieden theoretisch denk- und machbar wäre, aber dieser Zwist überdau-ert Generationen wohl auch einfach deshalb, weil es in Campobasso ohne dieses Dauerthema zu langweilig wäre.
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