Maria, Mord und Mandelplätzchen
Vogel, der sich mit seinen Schreien in meine Gedanken einmischte und mir klarmachte, dass Frau Lachmann, trotz ihrer Wut wegen der Spazieraktion, gar nichts, aber auch gar nichts mit Oma Marthas Tod zu tun hatte.
Noch während ich im Schneetreiben für immer die Augen schloss, spürte ich den Lufthauch des Flügels der Weihnachtskrähe.
Autorenvita
Regine Kölpin, geboren 1964 in Oberhausen ( NRW ), lebt in Friesland. Für Kinder und Jugendliche schreibt sie unter ihrem Mädchennamen Regine Fiedler. Auf das Konto der Autorin gehen derzeit zehn Romane, zwei Storybände (mit dem TrioMortabella), eine Herausgabe und über fünfzig Kurztexte. Regine Kölpin leitet fortlaufende Schreibwerkstätten für Jugendliche und in der Erwachsenenbildung und veranstaltet historisch-kriminelle Stadtführungen. Sie ist mehrfach ausgezeichnet worden, zuletzt hat sie für das Jahr 2010 das
Krimistipendium Tatort Töwerland
erhalten.
Mehr unter: www.regine-koelpin.de
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Zoë Beck
Dorianna
Hamburg
Geschrieben mit Filzstift auf Küchenrollenpapier. Gefunden neben einem überfüllten Papiercontainer in der Kronprinzenstraße, Ecke Wildenbruchstraße (Blankenese/Nienstedten).
10 . 12 . 11
Ich habe immer noch nicht geschlafen.
Letzte Nacht habe ich nicht mal ein paar Minuten geschafft. Dafür bin ich tagsüber ständig eingenickt. Man bekommt nicht viel Geld zusammen, wenn man am Gänsemarkt sitzt und schläft, die Leute wollen das Gefühl haben, dass sie jemandem Geld geben, der etwas tut. Mitleiderregend schauen und ihnen einen schönen dritten Advent wünschen, zum Beispiel. Oder sie geben es jemandem, dem etwas fehlt, abgesehen von einer Wohnung. Ein Arm, ein Bein. Ich habe mal eine Frau gesehen, der ein Ohr fehlte. Sie bekam fünfmal so viel Geld, wenn sie keine Mütze trug. Deshalb musste sie immer für den Winter sparen. Sie kam aus Baden-Baden, hat sie gesagt. Ihr Mann hat ihr im Streit das Ohr abgerissen, und danach hat sie Baden-Baden verlassen. Ich habe aufgehört zu sagen, dass ich nicht weiß, woher ich komme. Die anderen denken dann immer, ich will mich nur wichtigmachen. Also sage ich: Ich komme aus einem Dorf hundert Kilometer von hier. Noch nie hat einer gefragt, wie das Dorf heißt, dabei habe ich mir einen schönen Namen ausgedacht: Ulmenhorst. Ich mag den Klang.
Die Leute, die am Gänsemarkt ihr Geld spazieren tragen, können nicht sehen, was mir fehlt: Schlaf. Sie denken, ich bin betrunken und nicke deshalb kurz ein. Eine betrunkene Frau finden sie noch widerlicher als einen betrunkenen Mann, das weiß ich, manche sagen es laut. »Sieh dir die Frau an, das versoffene Stück, die hat’s nicht besser verdient.« Das hat mal eine Frau gesagt. Aber ich trinke ja nicht, wie denn, mit der halben Leber. Der Arzt damals sagte, Trinken sei jetzt ganz schlecht. Eine Niere fehlt mir noch, aber das können die Leute auch nicht sehen. Deshalb sehen sie mich lieber gar nicht.
Der Winter kommt spät in diesem Jahr, aber er kommt. Es wird Zeit, woanders zu schlafen. Ich kann nicht länger auf dem Hochsitz im Volksdorfer Wald bleiben. Ich will nicht ins Asyl, ich will nicht zu den anderen. Ich will alleine sein. Ich muss mir etwas Neues suchen. Vielleicht im Westen. Einfach ans andere Ende der Stadt.
Es wird Schnee geben, ich kann ihn schon riechen.
13 . 12 . 11
Ich habe immer noch nicht geschlafen.
Jetzt bin ich in Blankenese. Es gibt ein paar andere, sie lassen mich mit ihnen zusammen an der S-Bahn gebrauchte Tageskarten verkaufen. Und wir erklären den Leuten, wie der Fahrkartenautomat funktioniert. Das gibt immer ein paar Cent. Ich hätte schon viel früher herkommen sollen, aber es hieß immer, am Gänsemarkt lässt sich mehr Geld machen, da sind alle Touristen, da ist Platz für alle.
Ich weiß nicht, wo die anderen schlafen, es interessiert mich nicht. Ich habe ein Restaurant gefunden, das leer steht. Es gibt noch Wasser und Strom, und in den letzten drei Tagen ist niemand gekommen. Vielleicht kommt sogar bis zum Frühjahr niemand. Gegenüber ist ein Café, es läuft sehr gut, und manchmal schließen sie nachts den Hintereingang nicht ab. Ich war letzte Nacht dort, als ich nicht schlafen konnte, um mich aufzuwärmen. Es roch so gut nach selbstgebackenem Kuchen und Kaffee, ich glaube, der Duft hängt dort immer in der Luft.
Ich habe jemanden gesehen, eine Frau, und sie kam mir bekannt vor. Es ist das erste Mal in fast genau zwei Jahren, dass mir jemand bekannt vorkam. Die Frau war in
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