Maria, Mord und Mandelplätzchen
der Vorstellung nicht ganz erwehren, dass diese Weihnachtskrähe der Vorbote für all das Unheil war.
Oder die Verbündete. Von der Lachmann, die Oma Martha gehasst hatte.
Ich wiederholte den Gedanken noch einmal. Die Weihnachtskrähe war die Verbündete der Lachmann, die es meiner Oma heimzahlen wollte. Neid war das Mordmotiv schlechthin, das wusste ich noch aus der griechischen Mythologie.
Ich war ganz nah dran. Die Lachmann hatte sich den schwarzen Todesvogel zum Verbündeten gemacht, meine Oma ermordet und die Krähe benutzt. Nur wie?
Ich sah mich weiter im Zimmer um.
Die Krähe hatte jetzt aufgehört, gegen die Scheibe zu picken. Sie hatte sich erneut auf der Brüstung plaziert, sah aus, als warte sie auf mich. Ich öffnete die Tür zum Balkon. Aus den geöffneten Fenstern des Speisesaals drang nun
Ihr Kinderlein kommet
zu mir nach oben. Die Alten waren schon arg in Weihnachtslaune.
Nichts ihr Kinderlein kommet, dachte ich. Krähe, ich komme. Noch im Vorübergehen schnappte ich mir das Vogelfutter. Ich wollte das Tier fangen, es zum Reden bringen. Wie auch immer ich das anstellen wollte. Es hatte gesehen, was die Lachmann mit meiner Oma getan hatte. Auch wenn sie weite Strecken nur mit ihrem Rollator fertigbrachte: Die Lachmann hatte Bärenkräfte und Oberarme, die eher Schenkeln glichen. Ein winziger Stoß hätte gereicht, um meine schmale Oma Martha herunterzustürzen.
Ich trat hinaus. Ein bisschen hatte es zu schneien begonnen, ein herrlicher Weihnachtswetterfriede verschmolz mit den Liedern aus dem Speisesaal. Ich setzte einen Fuß in den frisch gefallenen Schnee und zerstörte damit die aufkommende Idylle.
Die Krähe rührte sich nicht von der Stelle. Sie hatte den Kopf nur schräg gestellt und blitzte mich weiter an. Die weißen Sterne perlten auf ihrem schwarzen Gefieder ab, schmolzen zu kleinen Wassertropfen.
Ich griff in die Tüte mit dem Vogelfutter, versuchte, die Krähe zu locken. »Komm, na komm schon!«
Die Krähe hüpfte mir aber nicht entgegen, sondern entfernte sich Zentimeter für Zentimeter auf dem Geländer. Mit winzigen Schritten zog sie sich vor mir zurück. So musste sie es vorhin auch mit meiner Oma getan haben. Ich sah ihren verkniffenen Gesichtsausdruck. Sie hatte der Lachmann die Weihnachtskrähe nicht gegönnt, wollte sie selbst haben. Warum sonst hätte sie Vogelfutter in ihrem Zimmer horten sollen, warum sonst lagen all diese Bücher über Vögel herum?
Wenn ich an den durchdringenden Lachmann-Blick dachte, konnte ich Oma Martha direkt verstehen. Ich würde für sie diesen schwarzen Vogel fangen, und dann sahen wir weiter.
Ich kriege dich, du Vieh, dachte ich. Und ich werde dir den Hals umdrehen.
Ich trat einen weiteren Schritt auf die Krähe zu. »Komm, du böser Vogel«, sang ich, machte mir keinen Kopf darum, ob ich sie damit verärgern könnte.
Die Krähe reagierte ohnehin nicht. Jedenfalls nichts so, wie ich mir das vorstellte. Sie kam meiner Hand nicht einen Zentimeter näher. Im Gegenteil. Je mehr ich auf sie zutrat, desto weiter hüpfte sie auf dieser Brüstung weg.
Ich war mittlerweile am Geländer angelangt, mich trennte noch etwa ein halber Meter vom Objekt meiner Begierde. Ich legte einen freundlichen Tenor in meine Stimme, doch immer wenn ich der Krähe meine gefüllte Hand entgegenstreckte, flog sie auf und krächzte. Vor dem Balkon befand sich eine alte Eiche, die ihre Äste einladend ausstreckte. Die Krähe ließ sich auf dem nächstgelegenen Ast nieder. Mittlerweile hatte mich der Ehrgeiz gepackt. Es konnte doch nicht sein, dass mich eine Krähe dermaßen hochnahm.
Ich lehnte mich zu dem Vogel weit hinüber, der erneut aufflog und seine unheimlichen Laute ausstieß. Meine Füße ertasteten die Metallstreben, fanden eine Stufe höher Halt, so dass ich dem Ast, auf dem sich die Weihnachtskrähe nun befand, ein Stück näher gekommen war.
Ich beugte mich weit vor, hielt mich lediglich mit den Unterschenkeln. Ich würde die Krähe einfangen. Koste es, was es wolle. Das Tier steckte ganz tief mit drin. Mein Herz schlug schneller, jeder Schlag war in meinem Kopf zu spüren.
Ich wischte mir die Schneeflocken aus dem Gesicht und den Augen, und noch während ich auf die Weihnachtskrähe einschimpfte, verlor ich das Gleichgewicht und – fiel. Und fiel. Und fiel.
An meinem sterbenden Auge rauschten nicht nur die Fenster des Gebäudes, der kurze Abriss meines Lebens und die Töne von
Vom Himmel hoch, da komm ich her
vorbei, sondern auch dieser schwarze
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