Maria, Mord und Mandelplätzchen
etwa halb so breit, und ruhte den gesamten Abend auf zwei zusammengerückten Stühlen. Ihre Kleidung glich einem zerfetzten Zelt. Niemand wusste, wohin Schwarzzahn, der nur noch ein paar dunkle Stümpfe im Mund hatte, und sie Jahr für Jahr nach dem Fest gingen, Hand in Hand, bis sie zwölf Monate später wieder den Weg aus den Bergen des Südschwarzwaldes hier in das Münstertal herunterkamen, auf dem ich Anton so oft begleitet hatte. Auch wusste niemand, wie die beiden wirklich hießen; viele blieben lieber namenlos. Wenn die Bergfrau aß, öffnete sich ihr Mund zu einer gigantischen Höhle, in der Pudding, Kuchen und Braten verschwanden. Außer ihr und mir bemerkte zunächst niemand das Erscheinen des Herrn. Als sich die Tür hinter ihm schloss, blieb die Höhle offen stehen.
Der Herr war in einen feinen, hellen Wollmantel gehüllt und blickte sich suchend um. Der Mantel musste ein Vermögen gekostet haben. Kamelhaar, vermutete ich. Er hatte ihn schon damals getragen. Genauso wie den Siegelring, auf dem ein großer Brillant funkelte. Seine Schuhe konnte ich im Gedrängel nicht erkennen, doch sicherlich glänzten sie genauso schwarz wie sein zurückgekämmtes Haar. Und ich bildete mir ein, dass sogar über die vielen Köpfe hinweg ein Hauch dieses würzigen Männerparfums wehte. Nina hatte es gemocht.
Die Bergfrau stieß Schwarzzahn mit dem Ellbogen an, stopfte sich das Waffelherz in den Mund, kaute weiter und murmelte, was einem Schrei gleichkam: »Da will einer fein pinkeln.«
Sofort verebbte das Stimmengewirr, und rund hundertzwanzig Augenpaare blickten zur Tür. Nur Karlis sah in seine Noten und spielte weiter.
Der Herr verbeugte sich leicht.
Zottel, der genauso gut vierzig wie siebzig sein konnte und nur aus langen, verfilzten Haaren zu bestehen schien, lachte kehlig. »Falsche Adresse?« Sein Mischlingshund Mädel, der sozusagen Partnerlook trug, stellte die Ohren auf.
»Fröhliche Weihnachten«, sagte der Herr.
Zottel grinste schief.
Geplauder und Besteckklappern setzten wieder ein.
Nur Anton legte Messer und Gabel beiseite. Ich glaubte, einen Schatten zu erkennen, der sich über seine Wangen mit den viel zu früh ergrauten Bartstoppeln legte. Anton war erst Ende dreißig.
Der Herr strich einen unsichtbaren Fussel von seinem Mantel und drängte sich in die Menge. Dann sah er mich. Sein Mundwinkel zuckte. Er nickte und wandte sich ab. Am Rollstuhl des einbeinigen Schorsch blieb er mit dem Mantel hängen.
»Pfoten weg, ey, das is
mein
Gefährt!«, blaffte Schorsch, als der Herr sich befreite, und schon traten an Schorschs Hals die Adern hervor, und er schrie: »Hau ab!«
Man erzählt sich, dass Schorsch früher, als er noch Taxi fuhr, einen Mann krankenhausreif geprügelt habe, weil der seinen Mercedesstern angefasst hätte.
Der Herr lächelte ihn an. »Ich freue mich auch, Sie kennenzulernen.« Ohne den Mantel abzulegen, quetschte er sich neben Schorsch an den Tisch, der nicht weit weg von mir stand, und griff nach der Weinflasche. »Darf ich?«
Keiner sagte etwas. Den Parfumduft hatte ich mir nicht eingebildet. Vom Nachbartisch sahen Anton, Schwarzzahn und die Bergfrau zu dem Herrn hinüber. Die Gespräche rundum verstummten. Karlis stimmte
Lasst uns froh und munter sein
an.
Der Herr schenkte sich ein und hob das Glas. Der Brillant blitzte. »Zum Wohl, die Damen und Herren.« Er trank und winkte Irmgard herbei, die gerade mit einem Teller dampfendem Braten und zwei Waffeln aus der Küche trat. »An dem Bukett müssen wir noch etwas arbeiten, meine Liebe. Und der Abgang«, er schürzte die Lippen, »könnte einen Hauch länger sein. Wie wäre es mit einem Reserve Pinot Noir?«
»Geh woanders pinkeln, wenn’s dir nicht passt«, schnaubte die Bergfrau.
»Uns sind alle willkommen.« Irmgard stellte den Braten vor den Herrn und die Waffeln auf den Nebentisch. »Wir machen keinen Unterschied, liebe Bergfrau, das weißt du doch. Jeder, der zu uns kommt, darf mitessen und -feiern.«
Typisch Irmgard. Immer liebenswürdig, immer engelsgleich, selbst wenn der Teufel am Tisch saß.
Bastian schnappte sich eine Waffel und kletterte zu seinem Vater auf den Schoß. Der Herr schnitt ein Stück Braten ab, schob es sich in den Mund, kaute lange. Er wiegte den Kopf. »Beim Fleisch könnte man auch noch etwas Qualität nachlegen.«
Seit meiner ersten Begegnung mit dem Fremden dachte ich an ihn immer nur als »den Herrn«, weil er so elegant gekleidet gewesen war und nach Luxus und Bessersein geradezu stank.
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