Maria sucht Josef - Eine weihnachtliche Liebesgeschichte
sie im Spiegel ihr Gesicht mustert, trotz aller Strapazen rosig und beinahe noch jung. Pflegt euren Teint, hatte Hannah immer gesagt und die Töchter vor allem bei leichtem Nieselregen nach draußen zum Spielen geschickt, weil Nieselregen so gut für die Haut sein soll. An echten Regentagen gingen sie oft in den Theaterfundus, zu dem Hannah einen Schlüssel hatte. Das Griechenland der Antike mochten sie alle sehr. Dort war Carola immer Athena und bisweilen auch Diana, die Göttin der Jagd, aber für Miriam gab es immer nur Aphrodite, die Königin der Liebe. Wie sinnlos kommt ihr das heute vor, und Miriam wünscht auf einmal, sie hätte sich mehr für den Krieg und für die Jagd interessiert als für das illusionäre Feld der romantischen Liebe.
Die Sonne spitzt über das Scheunendach, erreicht eine Ecke von Miriams Fenster und malt das Kreuz der Fenstersprossen in einem Lichtquadrat an die gegenüberliegende Wand. Dort hängen gerahmte Bilder, die Miriam bis jetzt noch nicht aufgefallen waren. Auch ein Brief, in Sütterlin geschrieben, mit einer feinen Zeichnung von Noten im Violinschlüssel, hängt an der Wand. Miriam geht näher hin. Sie kann genug von dem Geschriebenen entziffern, um zu verstehen, dass es sich hier um eine Auszeichnung von Joes Familie für eine musikalische Leistung im letzten Jahrhundert handelt. Unwillkürlich muss sie lächeln, denn als Joe sie seinen Eltern vorgestellt hatte, war es das Erste gewesen, was er nach ihrem Namen erwähnt hat.
»Singa tat s’, die Miriam, und zwoar net amoa schlecht. So a Stimm wie ihre könnt’ ma guad brauchen bei uns hier im Chor!«
Das waren seine Worte gewesen. Seine Eltern hatten zustimmend genickt, und die Mutter hatte nachgefragt, ob Alt oder Sopran. Miriam schmunzelt. Der Sonnenstrahl klettert weiter und hat sich inzwischen fast die Hälfte des Zimmers erobert. Jetzt erreicht das helle Licht die Kassetten des antiken Bauernschranks, der ein kleines Vermögen wert sein muss, wie Miriam glaubt. In die Kassetten sind Violinen gemalt, mit sich kreuzenden Bögen, umgeben von einem Band mit Schuberts Ave Maria – Noten aus dem Jahr 1825. Miriam war gestern zu müde, um sich den Schrank genauer anzusehen, aber im warmen Sonnenlicht leuchten die antiken Blautöne um die Wette mit dem Karmesinrot des Samtmieders auf dem Stuhl vor ihr. Vielleicht ist es doch Joes Mutter, die ihr das altmodische Gewand hingelegt hat, und unter Umständen hat das Schicksal sie mit Absicht an diesen Ort geführt, wo zumindest die Musik noch in Ehren gehalten wird. Vielleicht ist alles anders, als es gestern Nacht schien, und Miriam muss ihre Augen einfach ein wenig weiter öffnen. So hatte es Hannah immer gesagt. Nach der Dunkelheit kommt das Licht, aber man muss es auch hereinlassen können.
Der Cowboy sieht, wie Miriam das Fenster öffnet und ihr Gesicht mit geschlossenen Augen der Sonne zuwendet, die Decke zum Schutz gegen die Kälte um sich gewickelt. Lange steht sie da, und Joe muss unwillkürlich an eine Schamanin denken, die er in der Wüste kennengelernt hatte, als er mit Molly auf der größten Abenteuerfahrt seines Lebens war. Die Sonne lässt Miriams wilde Haare aufleuchten wie ein weithin sichtbares kosmisches Warnschild. Mit einem gewissen Vergnügen denkt Joe an letzte Nacht zurück. Ob Miriam im Bett auch wie diese unersättliche schamanische Wüstenfrau ist, die ihn bis in die Morgenstunden wach gehalten hatte? Prompt muss er bei dem Gedanken schmunzeln. Er fühlt sich an diesem Tag so jung wie schon lange nicht mehr. Natürlich ist er ein wenig außer Atem von dem schnellen Spaziergang mit den Pferden, aber sein Körper strotzt vor plötzlicher Kraft. Sein Vater geht immer noch fröhlich pfeifend mit den Kindern bergauf, während Joe unter einem Vorwand zum Haus zurückgeht. Es ging ihm in letzter Zeit gesundheitlich nicht besonders gut, wofür er sich mit einem Mal schuldig fühlt. Er trinkt zu viel Bier, raucht immer noch ab und zu und treibt vor allem viel zu wenig Sport. Das muss von jetzt an anders werden. Er sieht zu der Schamanin hoch. Immer noch steht Miriam regungslos am Fenster, und Joe beschließt, zu ihr nach oben zu gehen, bevor seine Mutter ihm zuvorkommt, um Miriams wahre Absichten herauszufinden. Er kann sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie eine Frau wie Miriam auf Hillas bayerische Inquisition reagieren wird.
Einem Wal gleich, der nicht weit vom rettenden Wasser auf dem Sand gelandet ist, liegt Miriam auf dem Bett und verschnauft
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