Marie ... : Historischer Roman (German Edition)
hast ganz vergessen, Tante Marie zu gratulieren. Sie hat doch Geburtstag heute!“ Aufmerksam betrachtete ich meine Nichte. Fast schon ein Backfisch, begann sich ihre Figur zu entwickeln. Das Schönste an Olive waren ihre übergroßen dunklen, von langen seidigen Wimpern umrahmten Augen, mit funkelnden goldgelben Sprengeln darinnen. Und wenn die Sonne auf ihr schwarzes Haar fiel, konnte man diesen winzigen Mahagonischimmer ausmachen, auf den auch ich stolz war. Nun ja, sie hätte meine Tochter sein können, gut und gerne.
Aufgeregt plapperte das Mädchen in einem fort und brach mit seinem Temperament das Eis, das sich der langen Trennung wegen zwischen uns geschoben hatte.
„Tante Marie“, sagte sie, nachdem mein Bruder gemeinsam mit Antoine das letzte Gepäckstück hereingeschleppt hatte, „hast du schon gehört, dass Papa mich nach Paris mitgenommen hat, zur Weltausstellung?“
Ich zeigte mich gebührend beeindruckt. „Was du nicht sagst, Olive! Nach Paris. Was hast du alles gesehen?“
„Ach, man kann sich gar nicht alles merken. Mir schwirrt noch heute der Kopf! Was ich jedoch wirklich phantastisch fand, das waren die Rollwege, die man gebaut hat, um die vielen Menschen zu befördern, die die Ausstellung besuchten.“
„Rollwege? Davon habe ich noch nichts gehört, meine Kleine!“
„Wirklich nicht? Also, man musste sich zuerst in einer Schlange anstellen, weil natürlich tausend andere Leute wie wir durch Paris rollen wollten. War man dann endlich an der Reihe, blieb einem nichts anderes übrig, als mit einem mutigen Sprung auf die ständig vorüberziehende Bahn zu hechten, und im Nu war man einfach so - ohne jegliche Anstrengung - beim Tour Eiffel!“
Olive fing zu kichern an. „Vater hatte eine Heidenangst vor dieser rollenden Straße. Stimmt`s, Papa? Ganz im Vertrauen, Tante Marie: Er hat nicht gemerkt, dass die roten Pfosten mit den Kugelköpfen zum Festhalten gedacht waren und nicht nur zur Zierde, und wäre daher beinahe gestürzt!“
„Was erzählst du für einen Unsinn, Kind!“ protestierte mein Bruder. „Du übertreibst mal wieder. Ich bin ein wenig ausgerutscht, nichts weiter. Außerdem hat mich so ein dämlicher Drehorgelspieler abgelenkt. Aber stell dir vor, Marie, der Rollweg zog sich tatsächlich ganze drei Kilometer durch das Gelände der Weltausstellung. Und der Tour Eiffel! Respekt, kann man da nur sagen, Respekt!“
„Unglaublich!“
„Ich bin entsetzlich müde!“ stöhnte Juliette. „Und mein Kopf hämmert ganz fürchterlich. Können wir die Unterhaltung nicht später fortsetzen?“
Inzwischen waren wir im ersten Stock angelangt.
Juliette vergaß auf der Stelle ihre Kopfschmerzen, als sie sich in den geräumigen, mit allem Komfort ausgestatteten Gästezimmern umsah. „Marie, ich kann es nicht fassen. Wie kann sich ein einfacher Dorfpfarrer leisten, so zu residieren?“
Dabei hatte sie den großen Salon und die anderen Räume der Villa noch gar nicht gesehen.
„Ganz einfach, Schwägerin“, gab ich schulterzuckend zur Antwort, „wir haben einen Schatz gefunden.“
Juliette war sprachlos. Sie ahnte ja nichts von großen Glashaufen und besonderen Diamanten. Und so lachte sie ein wenig konsterniert über meinen vermeintlichen Scherz.
Olive jedoch schüttelte sich vor Lachen. Sie fasste mich um die Taille und wirbelte mich im Kreis herum. „Die Tante hat einen Schatz gefunden, einen Schatz, einen Schatz! Wie sieht er denn aus, dein Schatz, Tante Marie?“ rief sie ausgelassen. „Ist er wenigstens hübsch und drall, so wie Papa?“
Ich stimmte ein in ihr Lachen und nickte ihr zu. „Hübsch und drall, natürlich, Olive!“
Als ich ihnen dann, nicht ohne Stolz, das Badezimmer für die Gäste zeigte, machte selbst Barthélémy ein überraschtes Gesicht. Marmor hatten sie in Lyon nicht. Nun fing Juliette an, vor Entzücken zu quietschen. Vorbei war ihre Müdigkeit und ihr Missbehagen. Sie drehte die Wasserhähne auf und zu, schnupperte an den teuren Handtüchern und rief: „Na so etwas, Barthélémy, deine Schwester hat vielleicht Humor. Einen Schatz will sie gefunden haben, einen Schatz ...“
Olive jedoch beachtete sie nicht, sie strich mit ihren zarten Mädchenhänden liebevoll über das Dekor des gefliesten Badezimmers.
„Veilchen, mag ich sehr!“ sagte sie leise und lächelte dabei. Auch das hatte sie von mir.
Es ist schon so: Sagt man die Wahrheit, glaubt sie keiner. Lügt man, wird einem zugestimmt. Wenn ich erzählt hätte, dass Saunière eine große
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