Marissa Blumenthal 02 - Trauma
Seelenruhe wiedergewonnen, war aber noch ärgerlich auf ihn. Sie fühlte sich hintergangen. Doch gleichzeitig war sie ihm dafür dankbar, daß er mitgekommen war, so daß sie nicht ganz allein auf sich gestellt war.
Zum Abendessen schickte sie der Geschäftsführer in ein »typisches« chinesisches Restaurant. Es war ein vierstöckiges Gebäude mit prächtiger, rotund goldbemalter Fassade. Im Inneren gab es zahlreiche, von erlesenen Kristalllüstern erhellte Speisesäle. Wie auf den Straßen wimmelte es auch hier von Menschen.
Das quirlende Durcheinander stürzte Marissa und Tristan in nicht geringe Verwirrung. Überall waren Menschen. Geräuschvoll saßen sie in allen Räumen an langen Tischen. Man schien sich nur schreiend zu unterhalten. Das Ganze erinnerte Marissa eher an ein Stadion als an ein Restaurant. Trotz der späten Stunde hörte man aus allen Richtungen quäkende Säuglinge. Und über dem ganzen Krach erscholl aus verborgenen Lautsprechern schrille chinesische Musik.
Schließlich fanden Marissa und Tristan einen Tisch. Man reichte ihnen große, in Gold und Purpur gebundene Speisekarten. Zu ihrem Leidwesen waren alle Speisen in chinesischen Schriftzeichen ohne englische Übersetzung aufgeführt. Sie versuchten, einen Kellner anzurufen, aber niemand nahm von ihnen Notiz. Schließlich kam einer. Zunächst gab er vor, kein Englisch zu sprechen. Dann schien er sich anders besonnen zu haben. Nun sprach er doch englisch, war aber nur halb bei der Sache und erwies sich bei der Übersetzung als wenig hilfreich. Ungeachtet dieser Schwierigkeiten gaben Marissa und Tristan eine Bestellung auf.
Als der Kellner verschwunden war, schrie Marissa über den Lärm hinweg: »Haben Sie eine Ahnung, was wir kriegen werden?«
»Nicht die leiseste«, antwortete Tristan.
Eine normale Unterhaltung war bei dem Krach im Restaurant ausgeschlossen. Marissa und Tristan mußten sich damit begnügen, ihre Umgebung zu beobachten.
Kurz darauf wurde ihre Bestellung gebracht. Sie bestand aus einem brutzelnden Wok-Topf mit undefinierbarem geringeltem Gemüse, einem Korb voll Mehlklößen, Meeresfrüchten in dunkler, salziger Soße, mehreren Reisschüsseln und fetten Geflügelkeulen. Dazu gab es eine Kanne voll grünem Tee.
Am meisten überraschte es sie aber wohl, daß das Essen köstlich schmeckte. Obwohl sie auch hinterher nicht genau wußten, was sie gegessen hatten, hatte es ihnen vortrefflich gemundet.
Danach verließen sie das lärmerfüllte Restaurant und traten auf die Straße. Seit der Rush-hour hatte der Verkehr noch kaum nachgelassen. Sie waren jetzt auf der Festlandseite von Hongkong, in Kowloon, und zwar im Bezirk Tsim Sha Tsui. Statt ein Taxi zu nehmen, beschlossen sie, zu Fuß ins Hotel zurückzugehen.
Die Stadt erstrahlte in Farben und Lichtern. Die großen Neonreklamen erstreckten sich über zwei Stockwerke hinweg. Alle Läden hatten noch geöffnet. In den Schaufenstern standen PanasonicRundfunkgeräte, Walkmans von Sony, Kameras, Videorecorder und Fernsehapparate. Jede dritte Haustür führte in eine Kellerbar oder einen Nachtklub. Musik dröhnte. Attraktive Chinesinnen mit runden Gesichtern in engen Kleidern nach chinesischem Schnitt grüßten mit schüchternem Lächeln. Außer dem Lärm und dem farbigen Schauspiel drangen die verschiedenartigsten Gerüche auf Marissa ein: ein kräftiges Gemisch aus Speisen, kochendem Öl, Weihrauch und Dieselabgasen.
In dem erdrückenden Menschengewimmel blieben Marissa und Tristan dicht beieinander und konnten so auch eine Unterhaltung führen.
Als sie vor einer roten Ampel stehenbleiben mußten, sagte Tristan auf einmal: »Jetzt habe ich eine Idee, wie wir Verbindung zur WingSin-Triade aufnehmen können.«
»Wunderbar«, sagte Marissa. »Und wie lautet sie?«
»Der Geschäftsführer!« sagte Tristan mit dem wissenden Lächeln des Eingeweihten. »Diese Burschen kennen sich doch überall in der Stadt aus. Er wußte ja auch, wo man gut essen kann. Dann kennt er wahrscheinlich auch die Triaden.«
Marissa verdrehte die Augen. Nach ihrer Ansicht war das keine großartige Idee.
»Ich habe auch eine Idee«, sagte sie. »Sie hat aber nichts mit den Triaden zu tun. Es könnte uns weiterbringen, wenn wir eins der großen Krankenhäuser in der Stadt besichtigten. Da läßt sich feststellen, ob in der Kronkolonie zur Zeit Tbc grassiert. Wir können uns sogar erkundigen, ob sie Fälle von tuberkulöser Eileiterinfektion haben.«
»Gute Idee«, sagte Tristan.
Als sie im Hotel
Weitere Kostenlose Bücher