Marissa Blumenthal 02 - Trauma
Balkonen, Topfpflanzen und Fernsehantennen.
Auf der Seite der Zahnarztpraxis hielten sich viele Menschen auf. Hier herrschte auch der übliche Krach aus voll-aufgedrehten Rundfunkund Fernsehgeräten und mit großer Lautstärke geführten Gesprächen. Dagegen war die gegenüberliegende Straßenseite unheilverkündend still und dunkel, nur von wenigen Lichtern unterbrochen. Marissa und Tristan verließen das Gebiet normalen Lebens und Verkehrs und näherten sich einem der Tunnel, die in die Eingemauerte Stadt führten.
Nebeneinander spähten sie in den einsamen Gang. Der Blick, der sich ihnen bot, war alles andere als einladend. Die schmale, dunkle Passage bog nach etwa fünfzehn Metern zur Seite ab. Der Boden bestand aus losem Sand und abgebrochenen Betonstücken. Die Wände waren mit Graffiti bedeckt. Über ihren Köpfen hing ein Gewirr von elektrischen Drähten und Leitungen. Selten brannte mal eine nackte Glühbirne. An mehreren Stellen tropfte Wasser herab und sammelte sich in glitschigen Pfützen.
Plötzlich erhob sich ein schrecklich durchdringender, schriller Krach. Unwillkürlich hielt Marissa sich an Tristan fest. Beide fuhren erschrocken zusammen. Es war eine 747, die knapp über den Hausdächern zur Landung in Kai Tac ansetzte.
»Ich würde sagen, wir sind etwas schreckhaft«, sagte Tristan mit nervösem Lachen.
»Vielleicht verzichten wir doch lieber auf die Eingemauerte Stadt«, schlug Marissa vor.
»Ich weiß nicht«, sagte Tristan. »Zur Kontaktaufnahme mit den Wing Sin kommt sie mir eigentlich recht geeignet vor.«
»Auf mich wirkt sie abschreckend«, sagte Marissa.
»Ach, kommen Sie!« drängte Tristan. »Wie gesagt, wir können ja jederzeit wieder gehen, wenn nichts daraus wird.«
»Gehen Sie vor!« sagte Marissa widerstrebend.
Tristan trat in die Öffnung. Marissa blieb ihm dicht auf den Fersen. So gingen sie in den schmalen Gang, in dem es bald wie in einem Abwasserkanal zu stinken begann. Kurz nachdem sie um die erste Ecke gebogen waren, mußte Marissa den Kopf einziehen, um nicht an das Gewirr von elektrischen Leitungen unter der Decke zu stoßen. Als sie weiter vordrangen, erstarben allmählich die Geräusche der Stadt hinter ihnen.
Nach einigen weiteren Biegungen stieß der Gang auf eine Stelle, an der mehrere Tunnel in verschiedenen Richtungen verliefen. Außerdem gab es dunkle Treppen, die entweder nach oben oder unter das Straßenniveau führten. Überall lag Müll und Abfall herum.
Aufs Geratewohl gingen sie durch einen anderen Gang weiter. Um eine Ecke biegend, erblickten sie die ersten Anzeichen von Leben. In einer Reihe schlecht beleuchteter Nischen saßen schwitzende Männer und Frauen bei der Arbeit an uralten Nähmaschinen. Sie schienen Herrenoberhemden anzufertigen. Marissa und Tristan nickten ihnen zum Gruß zu, aber die Leute starrten sie nur an, als wären sie Gespenster.
»Spricht jemand englisch?« fragte Tristan in munterem Ton. Falls ja, so meldete sich jedenfalls keiner. »Trotzdem vielen Dank«, sagte Tristan und deutete Marissa durch eine Handbewegung an, daß sie weitergehen wollten.
Immer tiefer tauchten sie in das Labyrinth ein. Marissa fragte sich, ob sie wohl je wieder den Rückweg finden würden. Sie schwankte zwischen Ekel und Angst. In ihrem ganzen Leben hatte sie nie einen so abstoßenden Ort gesehen. Nie hatte sie es für möglich gehalten, daß Menschen unter so erbärmlichen Umständen leben könnten.
An der nächsten Biegung, an der es besonders scheußlich stank, erblickte Marissa einen Haufen Abfall, auf dem Ratten nach Nahrung suchten. »O Gott!« schrie sie auf. Ratten waren ihr verhaßt.
Der Gang öffnete sich zu einer weiteren Reihe schmaler Nischen. In einigen brannte offenes Feuer, was zusammen mit dem widerlichen Gestank und der Hitze den Eindruck einer mittelalterlichen Vision der Hölle hervorrief. Dann kamen sie an einer Bäckerei vorbei, wo die frischen Brote auf dem dreckigen Boden gestapelt lagen. Nebenan war ein Schlangenverkäufer, der mehrere seiner Tiere an Drähten aufgehängt hatte. Andere bewahrte er in geflochtenen Körben auf.
Jemand fragte: »Suchen Sie Heroin?«
Marissa und Tristan drehten sich um. Hinter ihnen im Dunkeln stand ein etwa zwölfjähriger Chinesenjunge.
»Aha«, sagte Tristan. »Genau das, was wir brauchen. Einer, der englisch spricht. Nein, Kumpel, an Rauschgift sind wir nicht interessiert. Wir suchen jemand, der zur Wing-Sin-Triade gehört. Kannst du uns helfen?«
Der Junge schüttelte den Kopf.
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