Marissa Blumenthal 02 - Trauma
diesem Augenblick haben Sie sich umgedreht und sahen den Mann auf sich zukommen«, fuhr der Inspektor fort.
»Stimmt«, sagte Tristan. Sie kauten das jetzt zum zwanzigstn Mal durch.
»Woran haben Sie gemerkt, daß er auf Sie zuging und nicht auf jemand anders?« fragte der Inspektor.
»Er hat mich genau angeguckt«, sagte Tristan. »Mit einem sehr bösen Blick.« Tristan machte es zum Spaß nach und bedachte den Inspektor mit einem sehr bösen Blick.
»Ja, natürlich«, sagte der Inspektor. »Haben Sie den Mann früher schon einmal gesehen?«
»Noch nie!« sagte Tristan mit Nachdruck. Er wußte, daß dieser Punkt für die Polizei von besonderem Interesse war. Aber Tristan war nicht bereit, freiwillig zu verraten, daß es Marissa gewesen war, die den Mann wiedererkannt hatte. Wenn die Polizei es versäumte, Marissa zu verhören, würden sie es nie herausfinden. Tristan dachte nicht daran, irgend etwas von seinem Wissen preiszugeben. Er befürchtete, dadurch ihr morgiges Treffen mit dem Wing-Sin-Mann zu belasten.
Schließlich, nach zwei Stunden, gab der Inspektor auf, behielt aber das letzte Wort. Er sagte, es könne sein, daß er Tristan noch einmal vernehmen müsse, weshalb er bis auf weiteres in Hongkong zu bleiben habe. Sowie Tristan erlöst war, ging er an einen Hausapparat und rief Marissa an.
»Ich bin endlich frei!« sagte er. »Das müssen wir feiern. Gehen wir aus und kaufen uns neue Uhren!«
Sie gingen wieder in dasselbe Juweliergeschäft, in dem sie ihre ersten Ersatzuhren gekauft hatten. Diesmal handelte Tristan den Preis noch mehr herunter. Der Angestellte erhob nur kurz Einwände und gab dann nach.
Danach kehrten sie ins Hotel zurück und schlossen sich in ihren Zimmern ein. Sie kamen überein, den ganzen restlichen Tag hier zu bleiben. Da sie seit dem Frühstück nichts zu sich genommen hatten, bestellten sie als erstes Essen.
Zum Warten setzten sie sich an das Fenster mit der großartigen Aussicht.
»Hongkongs Schönheit erinnert mich an das Große Barriereriff«, sagte Marissa beim Blick aus dem Fenster. »Der strahlende Glanz verdeckt, was dahintersteckt: das ewige Fressen und Gefressenwerden.«
Tristan nickte. »Wie der Mann im weißen Anzug so treffend bemerkte: Hier ist alles käuflich. Alles!«
»Meinst du, daß er die Verabredung immer noch einhalten wird?« sagte Marissa. »Ich möchte mal gern wissen, wann die Wing Sin von deinen zwei Stunden bei der Polizei erfahren werden.«
»Das weiß ich auch nicht«, sagte Tristan. »Aber ich wette, daß der Foyer-Zwischenfall in die Zeitungen kommen wird. Also wird er es lesen, und wir haben zumindest eine Ausrede.«
Marissa seufzte. »Was wir schon alles in Hongkong erlebt haben! Ich weiß, du hast mich ja gewarnt. Trotzdem hätte ich mir im Traum nicht vorgestellt, was wir alles durchzumachen hätten. Ich bin nur noch ein Nervenbündel und fürchte mich, aus dem Hotel zu gehen. Ich habe ja schon Angst, ins Foyer hinunterzufahren. Schon beim Uhrenkauf habe ich furchtbare Angst ausgestanden. Ich dachte, jeden Augenblick würde wieder etwas Schreckliches passieren.«
»Ich weiß, wie dir zumute ist«, sagte Tristan. »Denk dran: wir können die Sache jederzeit fallenlassen. Wir müssen nicht unbedingt weitermachen.«
»Ja, ich denke ja daran«, sagte Marissa unentschlossen.
Minutenlang schauten Marissa und Tristan schweigend auf den Hafen hinunter.
Schließlich richtete Marissa sich auf und sagte: »Ich will weitermachen. So sehr mir das alles Furcht einflößt, ich kann nicht aufgeben. Jetzt nicht mehr. Ich könnte dann nicht mehr in den Spiegel sehen. Zudem kann ich mich des Gefühls nicht erwehren, daß wir dem Geheimnis nahe gekommen sind. Ach, immer wenn ich die Augen zumache, sehe ich Wendy vor mir.«
»Und ich sehe dann meine Frau«, sagte Tristan. »Ich weiß, daß ich so etwas nicht sagen sollte, aber du erinnerst mich irgendwie an sie. Bitte, sei nicht beleidigt! Ich will euch nicht miteinander vergleichen. Es ist ja nicht so, daß du ihr ähnlich siehst oder dich ähnlich benimmst. Es ist etwas anderes. Irgendwie ein Gefühl, daß du mir vermittelst.« Tristan staunte über sich selbst. Es war sonst gar nicht seine Art, so freimütig über seine Gefühle zu sprechen.
Marissa blickte ihm in die blauen Augen. Sie konnte sich jetzt vorstellen, was der Mann für Kummer und Leid erfahren hatte, als seine
Frau gestorben war. »Ich bin nicht beleidigt«, sagte sie. »Ich fasse es als Kompliment auf.«
»So war es auch
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