Marissa Blumenthal 02 - Trauma
genau voraus.
Doch Marissa nahm von all der Schönheit nichts wahr. Sie saß mit geschlossenen Augen da und hielt sich an der Reling fest. Sie war froh über die Meeresbrise, die ihr die Tränen an den Wangen trocknete, ehe noch jemand sie bemerkte. Doch nun begann das Boot zu schlingern, und Marissa spürte die ersten Anzeichen von Seekrankheit.
Als Ned Kelly anstelle der erhofften Dschunke Fahuangs nur einen leeren Liegeplatz sah, fluchte er los, wie nur ein Australier fluchen kann.
Wutschäumend fragte er: »Hätten wir denn nicht schneller herkommen können?« Als Australier war es ihm unverständlich, wie die Menschen hier mit einem so dichten Straßenverkehr leben konnten.
»Fragen Sie auf den Nachbarbooten, ob Williams und Blumenthal an Bord waren!«
»Ich bin nicht Ihr Diener«, sagte Mr. Yip. Ned fiel ihm immer mehr auf die Nerven.
»Der Satan soll Sie holen!« rief Ned. Dann aber zwang er sich zur Ruhe, indem er einen anklagenden Blick zum Himmel warf. Er wußte genau, daß mit Yip nicht gut Kirschen essen war, besonders nicht hier, wo der Mann ein Heimspiel hatte. »Bitte, fragen Sie die Leute!« sagte er schnell. »Und entschuldigen Sie, wenn ich Sie beleidigt haben sollte.«
Mr. Yip sprach mit der Familie auf einer der Dschunken, neben denen Fahuangs Boot gelegen hatte. Er redete Tanka, eine Sprache, von der Ned kein Wort verstand.
Dann sagte Mr. Yip zu Ned: »Sie haben, wörtlich übersetzt, gesagt, es seien zwei weiße Teufel an Bord gewesen.«
»Das müssen sie sein«, sagte Ned. »Können wir ihnen nachfahren?«
»Selbstverständlich«, sagte Mr. Yip.
Mr. Yip ordnete an, daß der Sampanführer sie zum Kai zurückfahren solle. Dann besorgte einer seiner eigenen Männer auf seinen Befehl ein schnelles Motorboot. Ned kletterte mit Willy zu dem Bootsführer auf die Vordersitze. Mr. Yip und zwei seiner Männer stiegen hinten ein. Die beiden waren mit Maschinenpistolen bewaffnet.
Mit dröhnendem Motor legten sie vom Kai ab und fuhren am ganzen Hafen entlang. Das Tempo des Motorboots machte Ned wieder Mut. Aber als sie die offene See erreichten, sank seine Stimmung erneut. Das Meer war mit Dschunken übersät, und sie sahen alle gleich aus. Sie fuhren dicht an einige heran, hatten aber kein Glück. Das richtige war nicht darunter. Da gaben sie es auf.
»Diese Amerikanerin scheint gegen alles gefeit zu sein«, klagte Ned.
Er drehte sich um und schrie Mr. Yip über dem Krach des starken Bootsmotors zu: »Was sollen wir jetzt machen? So lange warten, bis sie zurückkommen, oder was?«
»Es ist nicht nötig zu warten«, schrie Mr. Yip zurück. »Genießen Sie die Bootsfahrt! Wenn wir im Restaurant sind, sprechen wir weiter.«
»Was für ein Restaurant?« fragte Ned.
Mr. Yip zeigte nach vorn auf eins der großen schwimmenden Restaurants in Aberdeen mit goldenen Drachen und karmesinroten Spruchbändern. Inmitten der zahllosen heruntergekommenen Dschunken wirkte es so unwahrscheinlich wie eine Oase in der Wüste.
Eine Viertelstunde später saß Ned in dem Restaurant und speiste in großem Stil. Die Sonne war untergegangen, und die Lichter von Aberdeen funkelten über dem Hafen. Mr. Yip hatte es übernommen, ein üppiges Festmahl zu bestellen. Darüber vergaß Ned seinen ganzen Ärger.
Während des Essens brachte einer von Mr. Yips Männern eine Seekarte. Mr. Yip breitete sie auf dem Tisch aus. »Dies hier ist das
Mündungsgebiet des Zhujiang Kou«, erklärte Mr. Yip. »Die Ausländer nennen es meistens den Pearl River. Hier ist Guangzhou.« Er zeigte mit dem Stäbchen auf die Stelle. »Und hier, über Zhuhai, gleich nördlich von der besonderen Wirtschaftszone, die die Volksrepublik China hinter Makao ins Leben gerufen hat, liegt eine kleine Inselgruppe vor der Küste. Dort nimmt Kapitän Fahuang immer Ihre Leute auf. Wenn Sie heute nacht mit einigen meiner Männer dort hinfahren, können Sie sie treffen. Sie brauchen also nicht so lange zu warten, bis sie zurückkommen.«
»Wie komme ich denn dahin?« fragte Ned nach einem Blick auf die
Karte. Er sah, daß es nicht weit entfernt war: vielleicht 80 Kilometer.
»Wir stellen Ihnen ein Spezialboot zur Verfügung«, sagte Mr. Yip.
»Eins von denen, die man Zigarettenboote nennt.«
»Wunderbar«, sagte Ned. Er wußte, daß diese Zigarettenboote schneller als 80 Stundenkilometer fahren konnten.
»Bleibt nur noch ein Problem«, sagte Mr. Yip.
»Was für eins?« fragte Ned.
»Ich brauche noch etwas mehr Schmiere.«
16
19. April
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