Marissa Blumenthal 02 - Trauma
1990
10.51 Uhr abends
»Marissa!« rief Tristan aufgeregt. »Wir haben Verbindung aufgenommen. Komm doch an Deck!«
Im Dunkeln setzte Marissa sich auf. Sie hatte auf einer Bambusmatte im Lagerraum gelegen.
Der Abend war nicht gut verlaufen. Als sie anderthalb Stunden nach der Abfahrt von Aberdeen die Südspitze der Insel Lantau umrundet hatten, trafen sie unvermittelt auf heftige Sturmböen. Innerhalb von wenigen Minuten verwandelte sich der eben noch rosige Himmel in eine wirbelnde schwarze Wolkenmasse. Aus dem schwachen Wellengang wurden anderthalb Meter hohe Wogen.
Das leichte Unwohlsein, das Marissa bei der Abfahrt befallen hatte, steigerte sich rasch zu einer ausgewachsenen Seekrankheit. Da es an Bord keine sanitären Einrichtungen gab, blieb ihr nichts anderes übrig, als sich an die Reling des Achterdecks zu klammern und sich über das Heck hinweg zu erbrechen. Dann kam der Regen und zwang sie in das schmutzige Unterdeck.
Tristan hatte sich eifrig um sie bemüht, aber hier konnte auch er nicht viel ausrichten. Doch er blieb bei ihr. Aber dann machte er eins der Lunchpakete auf und fing zu essen an. Der Anblick und der Geruch der Lebensmittel bewirkten, daß Marissa noch übler wurde. Sie schickte ihn weg.
Der Sturm verlangsamte ihr Vorwärtskommen. Angesichts der starken Böen sahen sie sich gezwungen, das große Schmetterlingssegel zu reffen, das sie bisher gesetzt hatten. Der Kapitän ließ die Dieselmotoren an und begnügte sich damit, das Boot auf Kurs zu halten. Bentley erläuterte, daß er Kraftstoff sparen wolle.
Auch als der Sturm vorbeigezogen und das Segel erneut gesetzt worden war, verlief die Fahrt durchaus nicht angenehm. Es hatte fast völlige Flaute eingesetzt, und auf dem Wasser bildete sich dichter Nebel, der bald zur Waschküche wurde. Mehrmals tauchten plötzlich aus der Dunkelheit große Schiffe auf, deren Nebelhörner allen auf der kleinen Dschunke einen heillosen Schreck einjagten.
Aber dann waren sie endlich angekommen, und in der nächsten halbe Stunde kreuzten sie langsam vor der Küste zwischen dem Festland und einigen kleinen Inseln auf und ab. Zuerst hatte Marissa wie alle anderen neugierig die Küste betrachtet, ganz erstaunt darüber, daß sie das Territorium des kommunistischen Chinas vor sich sah. Doch nach einiger Zeit hatte sie sich wieder nach unten verzogen und sich eine Weile hingelegt. Inzwischen war sie weniger seekrank als erschöpft.
»Komm schon!« rief Tristan. »Ich weiß, dir ist es ganz schön schlecht ergangen. Aber jetzt sind wir da, wo wir hingelangen wollten.«
Mühsam erhob sich Marissa. Im ersten Augenblick war ihr noch schwindlig. »Hast du unser Wasser bei dir?« fragte sie.
»Sicher, meine Liebe«, sagte Tristan und reichte ihr die Flasche, die er in die Gesäßtasche gesteckt hatte.
Sie trank, gab Tristan die Flasche zurück und wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab. Dann nahm sie seinen Arm, und zusammen stiegen sie aufs Vorderdeck. Das Boot war vollständig dunkel. Nirgends brannte Licht.
Der Kapitän hatte wieder die Dieselmotoren angelassen, allerdings mit sehr geringer Drehzahl. So merkte Marissa nur an dem Zittern unter ihren Füßen, daß das Boot noch Fahrt machte. Zu hören war nichts, bis auf einen gelegentlichen gedämpften Knall, wenn der Auspuff für einen Augenblick ins Wasser tauchte.
Wenn Marissa sich anstrengte, konnte sie so eben im Nebel die Küste ausmachen. Dann sah sie, wie sich die Umrisse der Baumwipfel schwarz gegen den Himmel abhoben.
Es war deutlich zu spüren, daß Kapitän Fahuang nervös war, ebenso wie die beiden Matrosen. Dies war der gefährlichste Abschnitt der ganzen Fahrt, nicht nur, weil sie hier leicht entdeckt werden konnten, sondern auch wegen der vielen Untiefen des Gewässers.
Niemand sprach. Sie waren so dicht an der Küste, daß Marissa die Stimmen der Sumpftiere vernehmen konnte. Das einzige Geräusch war das Schwappen der Wellen an die Bootsseite. Dann aber hörte sie auch das Summen der Moskitos.
Plötzlich blitzte aus dem Dunkel der Bäume deutlich ein Licht auf. Es wurde noch zweimal schnell hintereinander angezündet. Sofort stellte der Kapitän die Motoren ab, sandte selber ein Lichtsignal in Richtung der Bäume und gab dem Matrosen im Bug ein Handzeichen. Einen Augenblick später war an dem gedämpften Plätschern zu hören, daß der Anker geworfen wurde.
Langsam schwang das Boot herum, bis der Bug zum Meer hin wies. Mit unterdrückter Stimme berieten sich der Kapitän
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