Marissa Blumenthal 02 - Trauma
erwacht.
»Diese Depressionen, die Eheprobleme und die Tatsache, daß sie Ärztin ist das alles läßt es vielleicht ratsam erscheinen, die Behandlungsweise zu ändern.«
Dr. Wingate lehnte sich an den Schreibtisch, verhakte den Daumen unterm Kinn, stützte die Nase auf den Zeigefinger und dachte über Mrs. Hargraves Anregung nach. Sie hatte entschieden ein gewichtiges Argument vorgebracht. Schließlich war er selber immer für flexibles Verhalten eingetreten.
»Sie hat auch die Szene mit Rebecca Ziegler miterlebt«, fuhr Mrs. Hargrave fort, »was ihre seelischen Nöte nur noch verstärkt haben kann. Ich mache mir große Sorgen um sie.«
»Aber bisher hat sie sich durchaus als widerstandsfähig erwiesen«, sagte Dr. Wingate. »Es ist richtig, daß der Erfolg der Frauenklinik auf unserer Berücksichtigung aller Einzelheiten besteht. Aber ich denke doch, daß es geraten ist, die Behandlung von Dr. BlumenthalBuchanan unverändert fortzusetzen. Sie wird sicherlich noch zwei weitere Zyklen ertragen. Allerdings wäre es vielleicht gut, ihr und ihrem Mann eine Beratung bei uns im Haus zu empfehlen.«
»Sehr gut«, sagte Mrs. Hargrave. »Ich werde ihr das vorschlagen. Natürlich besteht die Möglichkeit, daß sie diese Idee zurückweist, gerade weil sie selber Ärztin ist.«
Damit war die Angelegenheit entschieden. Dr. Wingate ging zur Tür und öffnete sie für Mrs. Hargrave.
»Da wir eben von Rebecca Ziegler sprachen«, sagte Mrs. Hargrave,
»man kümmert sich doch wohl gut um sie?«
»Zur Zeit liest sie ihre Krankenunterlagen«, sagte Dr. Wingate und folgte Mrs. Hargrave auf den Flur. »Leider wird ihr das einen Schock versetzen.«
»Kann ich mir gut vorstellen«, sagte Mrs. Hargrave.
3
19. März 1990
11.37 Uhr vormittags
Dorothy Finklestein schritt eilig durch den überglasten Fußgängerüberweg und kam auf den gepflasterten Hof der Frauenklinik. Wie üblich hatte sie sich verspätet. Sie kam immer zu spät. Ihr Termin für die jährliche Untersuchung war auf 11.15 Uhr festgesetzt.
Ein plötzlicher Windstoß verfing sich unter ihrem Hut und bog die Krempe nach oben. Sie konnte gerade noch rechtzeitig zugreifen, sonst wäre ihr der Hut vom Kopf geflogen. Im selben Augenblick bemerkte sie einen Gegenstand. Es war ein hochhackiger Damenschuh, der von oben auf sie zusauste und ganz in ihrer Nähe in einem Blumenkübel voller Rhododendren landete.
Trotz ihrer Eile blieb Dorothy stehen und schaute nach oben, um zu sehen, wo der Schuh hergekommen war. An der obersten Etage der sechsstöckigen Frauenklinik blieb ihr Blick haften. Dort schien eine Frau auf dem Fensterbrett mit herausbaumelnden Beinen und vornübergeneigtem Kopf zu sitzen. Es sah so aus, als betrachte sie prüfend das Pflaster tief unter ihr. Dorothy blinzelte, in der Hoffnung, daß ihre Augen sie trögen. Doch das Bild blieb unverändert: sie hatte es sich nicht eingebildet. Da saß wirklich eine Frau auf dem Fensterbrett eine junge Frau!
Dorothy stockte das Blut. Die Frau beugte sich zentimeterweise weiter vor und stürzte dann, sich langsam überschlagend, mit dem Kopf voran in die Tiefe. Im Sturz ähnelte sie einer lebensgroßen Puppe. Stockwerk um Stockwerk wurde der Sturz schneller. Dann landete die Frau in demselben Blumenkübel wie vorher ihr Schuh. Es gab einen dumpfen Aufprall, als wäre ein schweres Buch auf einen dicken Teppich gefallen.
Dorothy zuckte zusammen. Ihr war, als wäre sie selber dort aufgeschlagen. Als ihr klar wurde, was geschehen war, begann sie zu schreien. Doch dann nahm sie sich zusammen und rannte, ohne zu überlegen, auf den Blumenkübel zu. Sie war Einkäuferin für ein gro-
ßes Warenhaus in Boston und hatte wenig Erfahrung in Erster Hilfe, auch wenn sie schon einmal im College an einem Kursus teilgenommen hatte.
Einige vorbeikommende Frauen reagierten auf Dorothys Schrei. Nachdem sie sich vom ersten Schreck erholt hatten, begaben sie sich ebenfalls zu dem Kübel. Eine lief rasch in die Klinik zurück, um Alarm zu schlagen.
Dorothy hatte jetzt den Blumenkübel erreicht. Entsetzt starrte sie hinein. Die Frau lag auf dem Rücken. Ihre Augen standen offen und starrten blicklos zum Himmel. Da Dorothy nicht wußte, was sie sonst tun sollte, beugte sie sich über sie und begann mit Mund-zu-MundBeatmung. Sie hatte sofort erkannt, daß die Frau nicht mehr atmete. Mehrmals blies sie ihr Luft in den Mund. Dann mußte sie aufhören, den Kopf abwenden und sich erbrechen, wobei sie die in der Kaffeepause
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