Marissa Blumenthal 02 - Trauma
höflicher Redensarten entschuldigte sich die andere, weil sie merkte, daß die beiden einander eine Menge zu erzählen hatten.
»Wann bist du nach Boston gekommen?« wollte Marissa wissen.
»Ich bin schon seit über zwei Jahren hier. Meine Assistentenzeit absolvierte ich an der Uni von L.A. arbeitete dann mehrere Jahre im Krankenhaus und ging danach mit meinem Mann in den Osten. Er hatte eine Anstellung als Chirurg in Harvard bekommen. Ich bin in der Augenklinik des General Hospital. Und du? Als ich wieder mal in der alten Heimat war, habe ich mich nach dir erkundigt und hörte, daß du nach Atlanta gezogen seist.«
»Das war nur ein kurzer Abstecher zum CDC«, erklärte ihr Marissa. »Seit ungefähr drei Jahren bin ich wieder hier.« In raschen Worten berichtete sie Wendy von Ehe und Praxis und sagte ihr, in welchem Stadtviertel sie wohnte.
»In Weston!« sagte Wendy lachend. »Dann sind wir ja Nachbarn. Wir wohnen in Wellesly. Sag mal, du bist doch heute nicht etwa die Rednerin des Abends, oder?«
»Leider nicht«, sagte Marissa. »Und wie steht’s mit dir?«
»Genauso«, sagte Wendy. »Wir haben uns zwei Jahre lang bemüht, Kinder zu bekommen. Es war eine Katastrophe.«
»Das gleiche bei mir«, gestand Marissa. »Ich kann es noch kaum glauben. Da muß man also erst unfruchtbar werden, um dich wiederzutreffen. Und dabei habe ich mich vorher gefürchtet, jemandem zu begegnen, den ich kenne.«
»Ist das dein erstes Resolve-Treffen?« fragte Wendy. »Ich war zwar bisher erst bei fünf Treffen oder so dabei, habe aber nie deinen Namen gehört.«
»Ja, mein erstes«, sagte Marissa. »Ich hatte immer Vorbehalte herzukommen. Aber jetzt hat es mir meine Psychologin empfohlen.«
»Ich fand es hier immer prima«, sagte Wendy. »Das Problem ist nur, daß ich meinen dickschädeligen Mann nicht herbekomme. Du kennst ja Chirurgen. Es widerstrebt ihm einfach, zugeben zu müssen, daß irgend jemand Kenntnisse und Fachwissen besitzt, das er nicht aufweisen kann.«
»Wie heißt dein Mann?« fragte Marissa.
»Gustave Anderson«, sagte Wendy. »Und genauso, wie sich sein Name anhört, ist er auch: einer dieser weißblonden Schweden aus Minnesota.«
»Ich kriege meinen Mann auch zu nichts, das nur entfernt nach Therapie riecht«, sagte Marissa. »Er ist zwar kein Chirurg, aber ebenso dickschädelig.«
»Vielleicht könnten die beiden mal miteinander sprechen«, sagte Wendy.
»Ich weiß nicht«, sagte Marissa. »Robert wird fuchsteufelswild, wenn er den Eindruck hat, man wolle ihn irgendwie beeinflussen.«
»Alle mal herhören, bitte!« rief Susan Walker in das allgemeine Stimmengewirr. »Wenn jeder Platz gefunden hat, können wir jetzt anfangen.«
Marissa und Wendy setzten sich auf eine Couch, die in der Nähe stand. Marissa hatte ihrer alten Freundin noch viele Fragen zu stellen, und es fiel ihr schwer, sich zu gedulden. Während des Medizinstudiums war sie mit Wendy ziemlich eng befreundet gewesen. Daß sie einander danach aus den Augen verloren hatten, lag nur an den Entfernungen und daran, daß sie beide eifrig ihrem Beruf nachgingen. Nach der langen, durch ihre Unfruchtbarkeit bedingten Isolierung war Marissa vor Freude außer sich, daß sie diese alte Freundin wiedergetroffen hatte, die ihr volles Vertrauen hatte.
Doch es lohnte sich für Marissa, sich in Geduld zu fassen. Denn der Verlauf des Treffens nahm sie bald völlig gefangen. Nacheinander erhoben sich mehrere Frauen, um der Gruppe ihre Geschichte zu erzählen.
Diese Geschichten zu hören, wurde für Marissa zu einem starken seelischen Erlebnis, denn sie konnte sich mit allen Erzählerinnen identifizieren. So berichtete eine Frau, daß sie einmal im Lebensmittelladen eine andere Käuferin angeschrien habe, weil sie glaubte, sie vernachlässige ihre Kinder. Da dachte Marissa an die Teenagermutter mit ihrem verdreckten Kind und nickte verständnisvoll.
Auch ein Ehemann meldete sich zu Wort. Da bedauerte es Marissa um so mehr, daß es ihr nicht gelungen war, Robert zum Mitkommen zu bewegen. Der Sprecher erläuterte den Behandlungsstreß vom Standpunkt des Mannes aus. Daraufhin begriff Marissa schon ein wenig besser, was Robert ihr über seine Reaktion auf den Zwang, »produzieren« zu müssen, gesagt hatte.
Eine Anwältin sprach davon, welchen Kummer unfruchtbare Ehepaare erleiden mußten, wenn sie nach erfolglosen Versuchen künstlicher Befruchtung um ihre verlorenen Kinder trauerten. Beredt schilderte sie die Nöte solcher Paare und sagte dann
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