Marissa Blumenthal 02 - Trauma
leise: »Gäbe es offizielle Hilfe für diese kummergebeugten Menschen, dann würde wohl heute abend noch meine Freundin und Kollegin Rebecca Ziegler unter uns weilen.«
Nachdem die Anwältin geendet hatte, herrschte eine Weile respektvolles Stillschweigen im Zimmer. Es war deutlich zu spüren, daß die Erwähnung der Toten viele Anwesende tief berührt hatte.
Als die nächste Sprecherin aufstand, wandte Marissa sich an Wendy und fragte sie: »Hat Rebecca Ziegler häufig an diesen Treffen teilgenommen?«
»Ja«, sagte Wendy. »Das arme Ding! Beim letzten Treffen habe ich mich noch mit ihr unterhalten. Ich bekam einen Schock, als ich von ihrem Selbstmord erfuhr.«
»Litt sie denn unter starken Depressionen?« erkundigte sich Marissa.
Wendy schüttelte den Kopf. »Davon habe ich nie etwas bemerkt.«
»Ich bin ihr an ihrem Todestag begegnet«, sagte Marissa. »Da hat sie übrigens meinen Mann geschlagen.«
Wendy blickte Marissa überrascht an.
»Es war in der Frauenklinik«, erläuterte Marissa. »Sie hatte jede Beherrschung verloren. Robert versuchte sie zu beruhigen. Merkwürdig war, daß sie auch dabei keine Anzeichen von Depression verriet. Sie war außer sich, aber keineswegs deprimiert. War sie denn allgemein ruhig und beherrscht?«
»So kam es mir jedenfalls immer vor, wenn ich sie traf«, sagte Wendy.
»Merkwürdig«, sagte Marissa.
Nach der letzten Sprecherin kündigte Susan Walker eine Kaffeepause an. »Anschließend hören wir unsere heutige Gastrednerin. Wir haben die Ehre, Dr. Alice Mortland vom Columbia Medical Center in New York in unserer Mitte begrüßen zu können. Sie wird uns über die neuesten Aspekte von GIFT aufklären, der Gamete-IntratubenImplantation.«
Marissa sah Wendy an. »Willst du den Vortrag hören?«
»Kein Interesse«, sagte Wendy. »Bei zwei blockierten Eileitern kann mir auch GIFT nicht helfen.«
»Heiliges Kanonenrohr!« rief Marissa. »Ich habe genau das gleiche Problem: Eileiterblockierung.«
»Ist denn das die Möglichkeit!« sagte Wendy mit einem ungläubigen Auflachen. »Sind wir denn eineiige Zwillinge? Weißt du was? Wir tun so, als wären wir noch auf der Uni und schwänzten eine Me-
dizinvorlesung. Wir verkrümeln uns hier und unterhalten uns da unten in der Bar mit dem Cheers-Wimpel weiter.«
»Stoßen wir damit auch nicht die Gastgeberin vor den Kopf?« fragte Marissa.
»Susan nimmt uns das nicht übel«, sagte Wendy. »Sie ist sehr verständnisvoll.«
Zehn Minuten später saßen sich Marissa und Wendy in zwei tiefen Vinylsesseln gegenüber. Sie saßen an einem großen Fenster mit einem Gazevorhang, das auf die belebte Beacon Street hinausging. Dahinter erstreckte sich der jetzt dunkel gewordene Boston Garden. Im Lampenlicht sah man erstes grünes Gras sprießen, einen Vorboten des Frühlings.
Beide Frauen bestellten Mineralwasser und mußten darüber lachen.
»Kein Alkohol!« sagte Wendy. »Nun ja, die Hoffnung währet ewiglich.«
»Ich hatte vor etwa einer Woche meine vierte Embryoimplantation«, gestand Marissa.
»Wieder so ein Zufall«, sagte Wendy. »Ich auch. Nur bei mir war es erst die zweite. Wo hast du sie machen lassen?«
»In der Frauenklinik in Cambridge«, sagte Marissa.
»Das ist doch nicht zu glauben«, sagte Wendy. »Da bin ich ja auch. Dr. Wingate?«
»Ja«, sagte Marissa. »Eigentlich ist Dr. Carpenter mein Frauenarzt. Aber für künstliche Befruchtung ist ja Dr. Wingate zuständig.«
»Ich bin bei Dr. Megan Carter«, sagte Wendy. »Ich habe nämlich lieber eine Frauenärztin. Aber da Wingate die IVF-Station unter sich hat, mußte ich auch zu ihm.«
»Komisch, daß wir uns da nicht schon über den Weg gelaufen sind«, sagte Marissa. »Aber das liegt wohl daran, daß man dort sehr auf Vertraulichkeit bedacht ist. Das ist übrigens einer der Gründe, warum ich überhaupt diese Klinik aufgesucht habe.«
»So habe ich auch empfunden«, sagte Wendy. »Ich hätte ja auch zu jemandem im General Hospital gehen können. Aber das wäre mir unangenehm gewesen.«
»War es ein Schock für dich, als du erfahren hast, daß deine Eileiter blockiert sind?« fragte Marissa.
»Und was für einer!« sagte Wendy. »An so etwas habe ich doch nie gedacht. Für mich war es wie eine Ironie des Schicksals, wenn ich an all die Verhütungsmaßnahmen dachte, die ich mir im College und beim Medizinstudium auferlegt hatte. Damals wollte ich auf keinen Fall ein Kind haben, was ich mir heute überhaupt nicht mehr vorstellen kann.«
»Mir geht es
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