Marissa Blumenthal 02 - Trauma
Blicke.
Robert wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab und wandte sich wieder an Marissa. »Fünf Fälle? Gestern abend hast du nur von vier gesprochen.«
»Rebecca Ziegler hatte die gleiche Infektion«, antwortete Marissa.
»Im Ernst?« sagte Robert. Zu Gustave sagte er: »Das war die Frau, die in der Frauenklinik Selbstmord beging. Sie bekam im Wartezimmer einen Tobsuchtsanfall, gerade als Marissa und ich hereinkamen. Und am selben Tag ist sie dann runtergesprungen. Ich habe noch versucht, sie zurückzuhalten, aber sie schlug wütend auf mich ein.«
»Wendy hat mir von ihr erzählt«, sagte Gustave. »Sie haben versucht, sie vom Sprung zurückzuhalten?«
»Nein, so dramatisch war es nicht«, sagte Robert. »Es geschah, als sie eine Aufnahmeschwester angreifen wollte, die sie offenbar nicht an ihre eigenen Krankenunterlagen heranlassen wollte. Runtergesprungen ist sie erst später. Und zwar aus dem obersten Stockwerk, nicht aus dem Wartezimmer.«
Gustave nickte. »Ein tragischer Fall«, sagte er.
Ohne zu überlegen, platzte Marissa heraus: »Womöglich war er noch tragischer, als ihr denkt. Wendy und ich haben heute noch etwas erfahren. Es kann sein, daß Rebecca Ziegler gar nicht Selbstmord begangen hat, sondern ermordet wurde. Das sind die moralisch und rechtlich vernünftigen Grundsätze, nach denen die Frauenklinik geleitet wird!«
Kaum hatte Marissa von dieser erschreckenden Möglichkeit gesprochen, da bereute sie auch schon ihre unbedachten Worte. Es gab verschiedene Gründe zum Schweigen, darunter vor allem ihr Versprechen an Ken. Sie versuchte das Gespräch wieder auf die TbcInfektion zu bringen.
Doch Robert ließ es nicht zu. »Das mußt du uns genauer erklären«, forderte er.
Marissa sah ihren Fehler ein, hatte nun aber keine andere Wahl, als die ganze Geschichte auszuplaudern. Als sie fertig war, lehnte sich Robert zurück und sah Gustave an. »Sie sind Arzt«, sagte er. »Was halten Sie von der Geschichte, die Sie eben gehört haben?«
»Keine beweiskräftigen Indizien«, sagte Gustave. »Ich persönlich glaube, daß die beiden Pathologen ihrer Phantasie die Zügel schießen ließen. Sie gaben ja selber zu, daß sie keine konkreten Beweise hätten. Was sie haben, ist ein Aortariß, der unbedingt tödlich ist. Wahrscheinlich geschah der Aufschlag im Stadium einer Diastole. Das heißt, das Herz hatte sich gerade mit Blut gefüllt, als es plötzlich aufhörte zu schlagen. Die einzige Blutung kam aus dem Rückfluß, also von dem Blut, das sich noch in der Schlagader befand.«
»Klingt für mich einleuchtend«, sagte Robert.
»Wahrscheinlich hat Gustave recht«, sagte Marissa. Sie war froh, von dem Thema wegzukommen, und wollte nun auch nicht mehr die Frage aufwerfen, die sie beschäftigte. Dabei ging es darum, daß Rebecca im Wartezimmer nicht den Eindruck gemacht hatte, unter Depressionen zu leiden.
»Dessen ungeachtet«, fuhr Marissa fort, »hat uns Rebeccas Tod nur noch neugieriger gemacht. Ich möchte zu gern an den Computer in der Frauenklinik herankommen und lesen, was in Rebeccas Unterlagen steht. Denn was sie da gelesen hat, muß ihren Tod mit herbeigeführt haben.«
»Vielleicht finden wir in der Technischen Hochschule einen cleveren jugendlichen Hacker«, sagte Wendy. »Es wäre ein klassischer Streich, wenn wir von außen her an die Akten gelangten.«
»Das wäre wirklich phantastisch«, stimmte ihr Marissa zu. »Aber für uns beide wäre es praktischer, uns abends einzuschleichen und dann eins der Terminals zu benutzen. Mit ein wenig Einfallskraft könnte das jemand vom Memorial aus in Gang setzen.«
»Halt, halt!« rief Robert. »Jetzt begebt ihr euch aber eindeutig auf die schiefe Bahn. Unberechtigte Benutzung eines privaten Computers gilt in Massachusetts als schwerer Diebstahl. Wenn ihr so etwas Verrücktes anstellt, begeht ihr ein Verbrechen.«
Marissa verdrehte die Augen.
»Das ist kein Spaß«, sagte Robert. »Ich weiß, woran ihr denkt.«
»Zufälligerweise«, sagte Marissa, »sind Wendy und ich der Meinung, daß diese Tbc-Infektionen außerordentlich auffallend sind. Wir meinen, daß man diese Sache verfolgen muß. Offenbar sind wir die einzigen, die dazu bereit sind. Manchmal muß man eben ein Risiko auf sich nehmen.«
Gustave räusperte sich. »Es tut mir leid, aber in diesem Fall stimme ich mit Robert überein. Ihr könnt doch nicht ernsthaft beabsichtigen, in das Archiv der Klinik einzudringen! Was immer eure Motive sind, ein Verbrechen bleibt es
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