Marissa Blumenthal 02 - Trauma
Wachmann in gutgebügelter dunkelgrüner Uniform mit Schulterklappen. Marissa sah, daß er asiatischer Herkunft war. Er lächelte auf sie herab. Seine schwarzen Augen schimmerten wie Onyx.
»Warum haben Sie mich geschlagen?« fragte ihn Marissa. Mit Gewaltanwendung hatte sie überhaupt nicht gerechnet.
»Einbrecher!« knurrte der Wachmann. Sein Englisch hatte einen starken Akzent. Wieder schoß seine Hand vor und traf Marissa klatschend an derselben Stelle wie beim erstenmal.
Brennender Schmerz durchfuhr Marissa. Erneut fiel sie auf den Teppich.
»Stopp!« rief Wendy und wollte aufstehen. Doch der Mann im grauen Anzug trat ihr die Beine unter dem Körper weg. Sie stürzte zu Boden und bekam zunächst keine Luft mehr. Verzweifelt rang sie nach Atem.
»Warum tun Sie das?« wimmerte Marissa. Sie wälzte sich auf Hände und Knie und stemmte sich dann hoch. Ihr kam der Verdacht, daß sie es mit zwei Wahnsinnigen zu tun hätten. Sie wollte noch etwas sagen. Doch bevor sie auch nur ein Wort herausbrachte, ergriff der durch das Ketamin verursachte Alptraum erneut von ihr so lebhaft Besitz wie damals im Restaurant. Ihre Angst verstärkte sich.
»Einbrecher!« wiederholte der Wachmann, trat auf Marissa zu und schlug sie erbarmungslos zum drittenmal. Sie wurde gegen den Schreibtisch der Aufnahmeschwester geschleudert. Der Schreibtisch verhinderte, daß Marissa zu Boden fiel. Sie riß nur mit lautem Krach einige Bleistiftspender und Karteikästen herunter.
Der Selbsterhaltungstrieb gab ihr ein, ihr Heil in der Flucht zu suchen. Aber sie konnte doch Wendy nicht im Stich lassen! Wütend starrte Marissa ihren Angreifer an. »Wir sind keine Einbrecher!« schrie sie. »Sind Sie denn verrückt?«
Das Lächeln des Wachmanns verzog sich zu einem breiten, grausigen Grinsen, wobei er seine fauligen Zähne entblößte. Im nächsten Augenblick setzte er eine strenge Miene auf. »Was? Du sagst, ich bin verrückt?« knurrte er. Dann griff er nach seinem Revolver.
Mit vor Schreck weitaufgerissenen Augen sah Wendy, wie der Mann die Waffe hob und den Lauf direkt auf sie richtete. Sie hörte das schreckliche Klicken des Mechanismus, als der Wachmann den Hammer zurückzog. Der Mann wollte sie erschießen.
»Nein!« schrie Wendy. Sie hatte wieder Luft bekommen und sich aufgesetzt.
Marissa konnte nicht sprechen. Sie wollte den Mann anflehen, sie zu schonen, brachte aber kein Wort heraus. Vor Angst gelähmt, konnte sie den Blick nicht von dem schwarzen Loch der Mündung abwenden. Jeden Augenblick erwartete sie den mörderischen Einschlag der Kugel.
»Keine Bewegung!« schrie eine Männerstimme.
Marissa zuckte zusammen. Dann hob sie den Kopf. Die Waffe war nicht abgefeuert worden. Plötzlich senkte sich vor ihren Augen der Arm mit dem Revolver. Sie holte tief Luft. Es war ihr gar nicht bewußt geworden, daß sie den Atem angehalten hatte.
Marissa hob den Blick und sah dem Wachmann ins Gesicht. Der starrte ungläubig in den kurzen Flur zu den Fahrstühlen und der Wendeltreppe. Marissa folgte seinem Blick und sah einen zerzaust wirkenden Mann, der eine Kanone unverwandt auf den Wachmann gerichtet hielt.
»Jungs, ich glaube, ihr übertreibt ein bißchen«, sagte der Fremde.
»Du legst jetzt deine Kanone auf den Schreibtisch und stellst dich an die Wand! Aber keine unbedachten Bewegungen! Ich habe in meiner guten Zeit schon einige Leute erschossen. Einer mehr macht mir nicht viel aus.«
Einen Augenblick rührte sich niemand. Kein Wort fiel. Der Blick des Wachmanns wanderte von dem eben aufgetauchten Eindringling zu dem Chinesen im grauen Anzug. Er schien zu überlegen, ob er gehorchen sollte oder nicht.
»Die Kanone auf den Tisch!« wiederholte der Fremde. Dann wandte er sich an den Mann im grauen Anzug, der langsam auf ihn zukam.
»Du da, keine Bewegung!«
»Wer bist du?« fragte der Wachmann.
»Paul Abrums«, sagte der Fremde. »Nur ein ehemaliger Cop, der sich ein paar Dollar verdienen will, um seine Pension aufzubessern. Ein Glück, daß ich gerade in der Nähe war. Sonst wäre hier noch sonstwas passiert. Leg jetzt endlich die Kanone auf den Tisch! Ich sage es dir nicht noch einmal.«
Der Wachmann ging zum Schreibtisch der Aufnahmeschwester und legte seinen Revolver auf die Platte. Marissa trat schnell zur Seite. Wendy stand auf und ging zu ihr.
»So«, sagte Paul. »Wenn die beiden Gentlemen jetzt so freundlich sein würden, sich mit dem Gesicht zur Wand zu stellen und die Hände dagegenzulegen, dann fände ich es schon
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