Marissa Blumenthal 02 - Trauma
bemerkten, daß unter den Plastiktüchern Leichen lagen. Wendy versuchte, nur durch den Mund zu atmen, um das Formalin nicht riechen zu müssen.
»Willkommen in der Allgemeinen Anatomie«, sagte Spenser. »Leider habe ich selten Besuch.«
Als Wendy sah, womit er beschäftigt war, fuhr sie zurück. Es war der in der Nabelgegend abgesägte Rumpf einer Leiche. Die Augen waren halb geöffnet, der Mund war zu einem hämischen Lächeln verzerrt, das ein wenig von den gelben Zähnen sehen ließ. Von der linken Wange war die Haut abgezogen, so daß die Gesichtsnerven freilagen.
Spenser folgte Wendys Blick und sagte: »Sie müssen entschuldigen, Archibald ist in letzter Zeit etwas unpäßlich.«
»Wir kommen gerade aus dem Büro für ehemalige Studenten«, sagte Marissa.
»Entschuldigt mich«, unterbrach sie Wendy. »Ich warte lieber draußen.« Sie drehte sich um und machte sich auf den Weg zum Flur.
»Bist du okay?« rief Marissa ihr nach.
»Ja, gleich wieder«, sagte Wendy und winkte ab. »Laß dir Zeit! Ich bin draußen.«
Marissa wandte sich an Spenser. »Anatomie war nie ihr Lieblingsfach.«
»Tut mir leid«, sagte Spenser. »Wenn man das jeden Tag macht, vergißt man ganz, wie es auf andere wirkt.«
»Um darauf zurückzukommen«, fuhr Marissa fort, »wir waren also drüben im Büro für ehemalige Studenten, und Mr. Hammersmith nannte uns Ihren Namen. Wir sind Ärztinnen aus den Staaten und suchen Tristan Williams. Mr. Hammersmith sagte uns, da Sie zusammen das Examen abgelegt haben, wüßten Sie vielleicht etwas über ihn.«
»Sicher, ich kenne Tris«, sagte Spenser. »Vor etwa einem halben Jahr habe ich ihn noch gesprochen. Warum suchen Sie ihn?«
»Wir sind alte Freunde«, sagte Marissa. »Da wir zufällig in Brisbane sind, wollten wir ihm guten Tag sagen. Aber beim FCA ist er ausgeschieden.«
»Und nicht gerade unter angenehmen Umständen«, sagte Spenser.
»Der arme Tris hat schwere Zeiten durchgemacht. Aber jetzt scheint es ihm wieder besser zu gehen. Ich glaube sogar, er ist mit seinem neuen Betätigungsgebiet zufrieden.«
»Ist er noch immer in der Gegend von Brisbane?« fragte Marissa.
»Um Himmels willen, nein«, sagte Spenser. »Er ist draußen im Never Never.«
»Never Never?« fragte Marissa. »Ist das eine Stadt?«
Spenser lachte herzlich. »Nicht direkt«, sagte er. »Es ist ein australischer Ausdruck, so wie Back of Bourke oder Back of Beyond. Tris arbeitet als praktischer Arzt bei dem Royal Service der fliegenden Ärzte außerhalb von Charleville.«
»Ist das weit von hier?« fragte Marissa.
»In Australien ist alles weit«, sagte Spenser. »Es ist ein großes Land, und das meiste davon ist Wüste. Charleville liegt ungefähr 650 Kilometer von Brisbane entfernt, weit draußen am Rand des Kanallands. Von dort fliegt Tris nach Bettoota Hotel, Windorah, Cunnamulla und anderen gottverlassenen Orten, zu einzeln liegenden Rinderstationen. Soviel ich weiß, bleibt er oft wochenlang weg. Diese Arbeit verlangt besondere Männer. Ich bewundere ihn. Ich könnte so was nicht tun nicht, nachdem ich einmal hier gelebt habe.«
»Ist es schwer, dahin zu kommen?« fragte Marissa.
»Nach Charleville zu kommen, ist nicht schwer«, sagte Spenser.
»Da führt eine Asphaltstraße hin. Man kann sogar hinfliegen. Aber hinter Charleville besteht die Straße nur noch aus Staub und Dreck. Für einen Urlaub nicht zu empfehlen.«
»Vielen Dank, daß Sie sich die Zeit für das Gespräch mit mir genommen haben«, sagte Marissa. »Ich weiß Ihre Hilfe zu schätzen.« In Wirklichkeit war sie über seine Auskunft niedergeschlagen. Je näher sie Tristan Williams kamen, um so weiter schien er sich zu entfernen.
»Freut mich, wenn ich Ihnen behilflich sein konnte«, sagte Spenser.
»Doch an Ihrer Stelle würde ich das Outback und Tris vergessen. Ich würde zur Goldküste fahren und meine Zeit nach australischer Art am Strand verbringen. Was Trostlosigkeit ist, weiß man erst, wenn man einige Gebiete des australischen Outback gesehen hat.«
Marissa verabschiedete sich und ging nach draußen, wo sie Wendy auf den Stufen der Vordertreppe sitzen sah.
»Bist du okay?« fragte Marissa und setzte sich daneben.
»O ja, alles wieder in Ordnung«, sagte Wendy. »Entschuldige, daß ich dich da drin im Stich gelassen habe. Eigentlich sollte man meinen, daß ich mich mittlerweile daran gewöhnt hätte.«
»Es war gut, daß du so vernünftig warst rauszugehen«, sagte Marissa. »Tut mir leid, daß ich dir das zugemutet
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