Markttreiben
hatte, als Symbol
der Hoffnung? Ende des Zweiten Weltkriegs, im August 1945, musste das gewesen
sein. Die Amerikaner hatten eine Atombombe über Hiroshima und Nagasaki
abgeworfen. Die Pflanzen und Bäume in unmittelbarer Nähe des Epizentrums wurden
völlig verbrannt und jedes Leben ausgelöscht. Der Ginkgo aber, der ungefähr
einen Kilometer vom Explosionszentrum entfernt neben einem Tempel stand,
verbrannte zwar, er schlug ein Jahr später aber aus, er gebar Blätter. War das
so gewesen? Gerhard bemerkte das immer wieder, dass er von irgendwoher
Halbwissen hatte, aber nie genau sagen konnte, wie die ganze Geschichte ging.
Das ärgerte ihn. Ein Ginkgo – dass Menschen in ihrer Hilflosigkeit immer zu
Symbolen und Allegorien griffen.
Gerhard durchfuhr Böbing, kaufte sich zwei obligatorische
Leberkassemmeln beim Haslacher und beschloss, bei Toni einzukehren. Es war halb
sechs, unter der Markise saßen zwei Frauen, ansonsten war Stille. Gerhard ging
hinein, entdeckte Toni in der Küche. Der Chef kochte mal wieder selbst, weil er
mal wieder einen Koch verloren hatte. Das kam wie das Amen in der Kirche und
setzte eine seltsame Kurve in Bewegung. Der Chef kochte und war damit nicht
mehr im Lokal präsent. Der Chef kochte zwar gut, aber viel zu langsam, und die
Leute verhungerten vor den Getränken. Allmählich wurden die genervten Gäste
weniger, bis Toni einen neuen Koch einstellte. Und schon war der Laden wieder
rappelvoll. Die Toni-Kurve nannte Gerhard das bei sich, grinste still in sich
hinein und trug sein Weißbier lieber selbst nach draußen. Nach und nach kamen
einige Bekannte, nach und nach wurden die Weißbiere mehr, das Auto blieb am
Ende bei Toni.
Er wurde gefahren. Als Gerhard in sein Bett stieg, lag da Seppi, der
wieder wenig mehr als ein Grunzen von sich gab und keinen Millimeter rückte.
Gerhard seufzte. Es war fast zwei Uhr, morgen würde Evi wieder da sein. Oder
besser nachher. Evi sollte mitkommen zu Socher, Evi musste sowieso mit. Gerhard
brauchte eine zweite Instanz, das spürte er. Er war gefährdet, seinen
untrüglichen Blick zu verlieren.
SECHS
Unterhöhlt
vom flutenden Schmerz,
seelenbitter
Gerhard fühlte sich, wie er aussah, Evi hingegen war das blühende
Leben. Was sie immer war, aber heute war der richtige Ausdruck: überbordend
blühend. Evi war auf Sri Lanka gewesen, in einem Hotel im Gebirge, das
ayurvedisch arbeitete und in dem man irgendwelche Yoga- und anderen Exerzitien
machen konnte. Gerhard hatte schon vor Evis Abflug jedes Gespräch darüber
vermieden, er redete doch nicht über so einen Eso-Quatsch. Auch deshalb nicht,
weil Evi Kassandra besucht hatte, die just in der Nähe aufgeschlagen war –
zusammen mit ihrem Notarztfreund, der von irgendeiner
Ärzte-ohne-Grenzen-oder-sonst-was-Organisation für ein halbes Jahr auf die
Insel geschickt worden war. Gerhard verlor seine Exfreundinnen immer an solche
tollen Kerle. Pfundskerle, die einfach besser waren als er. Auch bei Jo war das
so gelaufen: Reiber war einfach klüger, gewandter, eleganter, cooler,
attraktiver, modischer … Der Notarzt war aufregender und fürsorglicher, und bei
seinem letzten Telefonat mit Wilhelmine hatte die ihm vorsichtig gesteckt, dass
ihr Besuch in Deutschland auf unbestimmte Zeit verschoben war, weil sie einen
Tierarzt auf ihrem Hundeschutzhof kennengelernt hatte. So war das Leben!
Auch jetzt beließ er es bei ein paar Komplimenten zu Evis Aussehen, keine
Nachfragen zum Urlaub. Er zerrte Evi fast in sein Büro, um ihr den neuen Fall
darzulegen. Alles, um bloß keine Geschichten über Kassandra zu hören.
Evi hatte die ganze Zeit aufmerksam gelauscht, sich ein, zwei
Notizen gemacht, ansonsten geschwiegen. Schließlich sagte sie: »Dieser Leo war
also ein gutmütiger Dorftrottel, für den so ein Filmchen die Sensation in
seinem sonst öden Leben bedeutet hatte?«
Gerhard nickte.
»Und Socher ist ein Exlehrer, der sich dem reinen Bayerntum
verschrieben hat?«
»Auch korrekt.«
»Der Streit gehabt hat mit Leo? Öfter sogar?«
»Ja, meine Beste. Du braun gebranntes Frankenhäschen.«
Evi schnitt ihm eine Grimasse. »Idiot, allgäuischer. Okay, das dazu.
Aber jetzt mal zum Fall: Meinst du echt, dass ein honoriger Exlehrer einen Dorftrottel
ermordet? Wegen eines Films?«
»Nein, aber wegen verletzter Eitelkeit. Leo hat ihn komplett
lächerlich gemacht, das verträgt so ein Kulturmännchen nicht.«
»Und dieser Socher hat das Ganze als Raubmord getarnt? Hat er das im
Kreuz?« Evi blickte Gerhard
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