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Markttreiben

Markttreiben

Titel: Markttreiben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: N Förg
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‘ne Sequenz beim Dreh gesehen, wie der
Kirchenchor die Mutter von dem schwulen Bubi rauswirft. Mei, was heißt da Bayernklischee?
Weinzirl, so was passiert im ländlichen Raum von der Schleimündung über den
Hunsrück bis zu uns. Intoleranz, Dummheit, Feigheit – das ist weder bayerisch
noch norddeutsch. Das ist die Kernkompetenz eines Lebewesens, das sich auch die
Krone der Schöpfung nennt.«
    Baier hatte sich richtig in Rage geredet. Das Thema war ihm nahe,
ging ihm nahe, und das fand Gerhard ungewöhnlich. Nicht dass er bezweifelt
hätte, dass Baier etwas naheging, er wusste um den sensiblen Kern dieses klugen
Mannes, der oft polterte und brummte. Aber es wunderte Gerhard, dass er so
vehement sprach. Es war, als müsse er eine Last wegreden; es war, als beträfe
ihn die menschliche Dummheit persönlich. Was sie auch tat, jeden Tag betraf sie
jeden persönlich, aber Baier war eben nicht der, der das Herz auf der Zunge
trug.
    Gerhard hatte sich erhoben. Zögerlich, denn eigentlich wäre er gerne
sitzen geblieben bei Weißbier und dem wohligen Gefühl, mit einem Menschen zu
reden, mit dem man noch besser schweigen konnte. Aber er würde sich jetzt mal
diesen Socher ansehen, der war immerhin ein erster greifbarer Anhaltspunkt. Er
ging langsam durch das helle Wohnzimmer. Sein Blick blieb an ein paar Bildern
hängen, die wie verstreut über einem Sideboard hingen. Baiers Frau, dünn wie
ein Strich. Seine Tochter, die Augen der Mutter, aber eher Baiers kräftige
Statur. Die Enkelin auf einem Pony im Märchenwald. Das Porträt einer Frau, die
seinen Blick festhielt. Die Frau war irgendwas um die vierzig, sie hatte
Lachfalten um die Augen, und etwas an ihrem Blick faszinierte ihn. Sie schaute
herausfordernd und verletzlich zugleich. Sie ergriff etwas in ihm. Er
registrierte das mit einem seltsamen Gefühl im Magen. Konnte man sich in ein
Bild verlieben?
    »Hübsche Frau«, sagte er beiläufig und spürte, wie sein Herz
klopfte.
    Baier lächelte. »Das ist Miri, meine Nichte. Ihr gehört das Haus.
Sie hat noch eins im Zentrum. Da wohnt sie. Hat geerbt, das Mädel. Aber Geld
macht nicht glücklich. Nein, Weinzirl, Geld macht nicht glücklich. Erben auch
nicht. Erben bedeutet den Verlust von Eltern. Haben Sie Ihre noch?«
    Gerhard nickte. Aus Baier sprach jene Wärme, die er in brummigen
Sätzen versteckte. Und aus ihm sprach Besorgnis. Besorgnis wegen dieser Miri?
Miri, die ihn verzaubert hatte, obwohl er sie gerade zum ersten Mal auf diesem
Bild gesehen hatte. Er versuchte den Faden wiederzufinden.
    »Ja, gottlob. Meine Eltern sind vergleichsweise jung. Und fit. Ich
glaube zwar, dass meine Mutter es zeitweise verflucht hat, schon mit zwanzig
ein Kind zu kriegen, aber heute ist es natürlich schön …« Er brach ab.
    Er hatte sich bisher noch nie Gedanken machen müssen über seine
Eltern. Sie waren seine Eltern. Keine Greise. Er kannte die Geschichten von Jo,
von vielen Freunden, die ihre Eltern in der Demenz oder im Alzheimer begleitet
hatten. Geschichten von Pflege, von Überlastung, von Nerven, die zerrissen, von
Fassungslosigkeit und grenzenloser Verzweiflung. Vom Verlust an Würde. Vom
Verlust an Menschsein. Vom Wissen, dass nichts mehr so war wie zuvor. Er war
bisher verschont geblieben.
    »Das ist gut«, sagte Baier.
    Gerhards Blick hing immer noch an Miri. Sie erinnerte ihn irgendwie
an Jo, aber sie war wie eine Jo ohne all die Vergangenheit. Ohne die gemeinsame
Zeit, ohne Vorgeschichten, ohne Lasten. Sie erschien ihm verheißungsvoll. Sie
war schön, aufregend, sie hatte wache, intelligente Augen. Sie war wie Jo, nur
anders. Er hätte Baier fragen wollen – über Miri. Er unterließ es.
    Er fuhr zurück zur Brücke, wo die Kollegen bei der Arbeit waren. Wo
sie die Filmkameras und die Digitalkameras der Standfotografin sichergestellt
hatten. Auch einige Filmkassetten und Speicherchips … Das gesamte Material
musste ausgewertet und mit der Filmcrew abgeglichen werden. Gerhard rief
Melanie an und gab ihr den Auftrag, sich darum zu kümmern. Er war das alles
los, und Melanie war stolz. Ein guter Deal. Langsam fuhr er nach Schönberg
hinauf und hielt an der kleinen Kapelle an. Setzte sich für einige Minuten auf
die Bank und blickte hinein in die Berge. Eine Landschaft wie gemalt, wenn die
Menschen nur nicht gewesen wären. Menschen störten schöne Bilder nur allzu oft.
Der Wind nahm zu, das eher kümmerliche Gewächs neben ihm säuselte leise. Hatte
er nicht mal gelesen, das sei ein Ginkgo, den man gepflanzt

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