Markttreiben
sie von dir
gar nichts mehr hört.«
»Ich denk, sie ist bei Reiber in Berlin?« Obgleich er mit Volker
Reiber – einst sein Intimfeind – heute gut befreundet war, konnte er sich nicht
dazu durchringen, »Volker« zu sagen. Er war und blieb Reiber.
»Das war letzte Woche, sie war vor allem auf einer Pressekonferenz
und hatte Redaktionsbesuche in Berlin und Hamburg zu erledigen. Falls du dich
erinnerst, sie betreut Medienleute für die Ammergauer Alpen.«
»Erinnere ich mich, jawohl. Na, jedenfalls geh ich schlafen, ich
will euer Damenkränzchen nicht stören. Grüß Jo, ich ruf sie an.«
»Na dann!«
Das klang schon wieder etwas komisch. Wusste Evi etwas? Er hob
schlapp die Hand zum Gruß und ging zu seinem Auto. Weiber!
Nachdem er mit Seppi durch den Forst gelaufen war und nachdem er
seine obligatorische Pizza gegessen hatte, sah er auf die Uhr. Fast halb zehn.
Sollte er anrufen? Eigentlich könnte sie anrufen, sie war doch abgehauen aus
ihrer eigenen Wohnung. Wahrscheinlich schlief sie längst nach ihrer Bergtour.
Morgen war auch noch ein Tag.
Gerhard erwachte um sechs und setzte sich mit einer Tasse Kaffee
auf die Terrasse. Seppi empfand diese frühe Stunde als unwürdig und schnarchte
weiter. Gerhard wollte sich gerade die Samstagszeitung bei seinen Vermietern
holen, als das Telefon läutete. Kurz vor sieben war es, und es war Baier. Hat
der schon wieder einen Derwürgten gefunden? Bevor Gerhard aber diesen Sparwitz
anbringen konnte, kam von Baier ein Stöhnen.
»Baier?«
Noch ein Stöhnen, ein Nach-Luft-Ringen. Das war ein Baier, wie
Gerhard ihn nie zuvor erlebt hatte. Ein Baier, der kaum sprechen konnte. Ein
Baier, der weinte! Der stammelte, und nur sehr zögerlich erfasste Gerhard die
Botschaft. Das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein. In seinem Magen ballte
sich ein Feuerball zusammen, Galle stieg ihm die Kehle hinauf, er war nahe
dran, den schwarzen Kaffee zu erbrechen. Baier schloss mit den Worten: »Ich bin
in der Wohnung. Ich habe nichts angerührt, aber ich musste …« Ein Klicken.
Gerhard legte das Handy auf den Schreibtisch. Ganz langsam, so als
könne es zerbrechen. Plötzlich schoss er hoch, dass der Gartenstuhl umfiel. Er
rannte zur Tür, riss sie auf, und plötzlich schrie er: »Nein!« Er packte einen
Blumentopf und schmetterte ihn über die Terrasse. Dann sackte er auf die Knie.
Er begann zu weinen. Eine Flut von Tränen. Seppi war herausgekommen und schob
ihm die Schnauze in die Hand. Gerhard umfasste den Hund und heulte in sein
Fell. Lange, bis er sich hochrappelte und unter die Dusche ging. Er drehte das
Wasser so heiß auf, dass er sich nahezu verbrühte. Er genoss den Schmerz, der
so viel leichter zu ertragen war als der Schmerz in seinem Inneren.
Er erreichte Peiting um halb acht. Baier öffnete ihm. Er sah
furchtbar aus. Um Jahre gealtert, grau im Gesicht, die Augen schwer umschattet.
»Wo ist sie?«, fragte Gerhard.
Baier wies in Richtung Schafzimmer. Sie lag auf dem Rücken, den Kopf
zu Seite geneigt. Haare waren ihr vor die Augen gefallen. Dafür war Gerhard
dankbar. Die Tablettenblister auf dem Nachtkästchen waren zahlreich. Er hatte
Handschuhe angezogen und las die Aufschriften. Schlaftabletten, Sedativa, ein
Antidepressivum. Woher hatte sie das ganze Zeug? Eine fast leere Flasche
Montepulciano stand da ebenfalls und ein Glas.
Langsam ließ er sich auf ihrem Bett nieder, strich ihr die Strähnen
aus dem Gesicht und sah ein letztes Mal nun doch in ihre Augen. Vorsichtig
drückte er ihr die Lider herunter, und dann rannte er wie vom Teufel verfolgt
ins Bad, erbrach sich, wieder und wieder. Nachdem er sich Wasser ins Gesicht
geschöpft hatte und mit ihrem Mundwasser gegurgelt, sah er sich um. Da hing
noch das Handtuch, das er benutzt hatte. Etwas mehr als vierundzwanzig Stunden
waren vergangen. Vierundzwanzig Stunden, ein Nichts im Weltenlauf.
Baier stand auf dem Balkon. Er schwieg eisern. Und Gerhard hätte
auch nichts gewusst, was er hätte sagen können. Er zog sein Handy heraus und
informierte Evi. Bat sie, zu kommen.
Evi entfuhr ein kleiner Schreckensschrei.
Bis Evi da war, saßen Baier und Gerhard auf dem Balkon. In Peiting
hatte das samstägliche Leben begonnen. Frauen mit Einkaufskörben, eine größere
Gruppe von Fahrradfahrern im Seniorenalter hatte sich vor der Kirche
eingefunden. Wahrscheinlich ein Radausflug der AWO oder Ähnliches. Das bunte Leben, es war wie Hohn. Irgendwann begann Baier zu
sprechen.
»Miri wollte mich um sechs abholen. Wir
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