Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Markttreiben

Markttreiben

Titel: Markttreiben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: N Förg
Vom Netzwerk:
wollten nach Augsburg auf
einen Antiquitätenmarkt fahren und unbedingt früh dort sein. Ich hab sie
angerufen, sie ging an keines ihrer Telefone. Dann bin ich ins Dorf
runtergegangen, ich hab einen Schlüssel.«
    Gerhard nickte. Dann schwiegen sie wieder, bis Evi auf einmal auf
dem Balkon stand. Die Tür hatten sie angelehnt gelassen.
    »Darf ich?«, fragte Evi leise.
    Gerhard nickte, und Baier und er folgten Evi bis in den Türrahmen
des Schlafzimmers. Evi gab die Tablettenblister, das Glas und die Flasche in
Tüten, dann drehte sie sich zu Gerhard um. »Gibt es einen Abschiedsbrief?«
    »Ja«, sagte Baier, »auf dem Küchentisch.« Er klang nun sehr gefasst,
er klang, als spräche er eine Filmrolle. Sie waren in einem schlechten Film
gelandet; der Vorteil an Kinos war, dass man gehen konnte und die Türen hinter
den schwarzen Vorhängen einfach schließen. Hier gab es kein Entrinnen.
    Evi nahm das Blatt und las vor.
    Ich, Miriam Keller, kann mit der Schuld nicht mehr leben. Leo
Lang hat mich erpresst. Er wollte zu Socher gehen und zu Effi Bader. Effi Bader
wollte meine Wiedereinstellung am Ammersee befürworten. Das hätte sie nie
getan, wenn sie von mir und Rainer gewusst hätte. Ich habe Leo Lang erwürgt. Er
hat zu viel gewusst. Es tut mir so leid.
    Gerhard atmete tief durch. Er suchte Baiers Blick. Doch der hatte
sich abgewandt, und auf einmal ging er zur Tür, wurde schneller, und man hörte
seine Schritte auf der Treppe.
    »Oh nein, der arme Baier.« Evi suchte Gerhards Blick. »Keine
Unterschrift«, sagte sie.
    Sie nestelte am Tisch herum. Der Brief war auf einem Stapel von
Blättern gelegen, alle ebenfalls Computerausdrucke. Es schien sich um eine Art
Tagebuch zu handeln.
    »Ein Brief und andere Aufzeichnungen«, sagte Evi leise.
    Gerhard war Evi dankbar, dass sie so neutral blieb. So
professionell. Evi hatte angefangen, die Blätter anzusehen. Sie überflog ein
paar Seiten. Das dauerte eine Weile. Gerhard war froh um die Pause.
    »Das sind Gedanken, Briefe, eine Art Tagebuch. Ich …« Evi schluckte
schwer.
    »Evi?« Es kostete ihn alle Kraft, ihr nun eine Stütze zu sein. Den
besonnenen Weinzirl zu geben. Aber Evi durfte niemals erfahren, dass er mit
Miri geschlafen hatte.
    »Sie schreibt wirklich eindrucksvoll.« Evi hatte sich etwas gefasst.
»Hier schreibt sie wohl über ihren Exmann. Und seine neue Frau. Es sind noch
mehr solcher ›J’accuse‹-Seiten da, ein ganzes Buch.« Evi klang hilflos. Gerhard
wollte auch nichts sagen, selbst wenn er gewollt hätte, er hätte das nicht
gekonnt. Er begann zu lesen:
    J’accuse – ich klage euch an für den Verlust der Zivilcourage:
    Vorgestern haben sie es wieder getan. Die halbe Nacht haben sie
meine Telefone traktiert, natürlich mit unterdrückter Rufnummer. Ich weiß, dass
sie es sind. Sie waren es immer. Gestern haben sie mich vom Balkon aus
beschimpft. Er oben ohne mit seinen lächerlichen Tattoos. Sein Bruder mit
Glatze. Bierflaschen in der Hand. Sie redeten von oben. Auf gleicher Ebene
begegnen sie einem nicht. ›Da kommt die fette Miri, dein Mann fickt meine Mama,
und die ist nicht so fett wie du.‹ Durchs ganze Dorf haben sie geschrien, an
einem schönen Tag, wo alle beim Grillen saßen. Alle mussten es hören, und alle
hören weg. Drehen die Musik im Gartenhaus lauter.
    Heute haben sie mein Auto mit Parolen besprüht, nicht mal die
Orthographie stimmt. ›Fuck Of‹ schreibt man ›Fuck off‹ – aber auch als Lehrerin
hab ich versagt. Mit was für Menschen hast du dich da gemein gemacht? Welches
todbringende Gift sie immer wieder verspritzen. Deine Geister werfen die
Schatten, die wir alle nicht mehr loswerden. Aber dich interessiert es nicht,
deine Gespielin lobt ihre Brut noch dafür, und das Dorf sieht zu.
    Ich habe versucht, andere aufzurütteln, ich bin nicht die
Einzige, die unter dem Balkon-Terrorregime leidet. Lippenbekenntnisse, ja, das
ist eine Sauerei, ja, das dürfen wir uns nicht länger gefallen lassen. Aber
dann: Mei, ma kannte den Voder von dem Bua, so a guade Haut, und die Frau werd
dem Bua a nimma Herr. Isch scho gnu gstroft. Mei, dass er mit 130 über die
Dorfstraße fährt, mei … dass er a Katz dabei derfahren hat, ja schod. A Kind
werds scho ned treffn.
    Angst habt ihr alle, dass sie am Ende eure Häuser mit Parolen
besprühen, und ja, das werden sie tun, weil sie keiner aufhält. Wer den Wind
sät, wird den Sturm ernten. Etwas sitzt auf meiner Brust. Es ist schwer. Die
Luft wird knapper. Wo war ich all die langen

Weitere Kostenlose Bücher