Markttreiben
Jahre?
Diese verdammten langen Jahre! Gerhard war übel, in seinem Kopf
rauschte es, seine Kehle brannte. Und auf einmal hasste er sich, dass er mit
ihr geschlafen hatte. Das hätte nie sein dürfen. Dann hasste er sie. Weil er
auch nur so ein Ablenkungsmanöver für sie gewesen war. Und er hasste sie, dass
sie sich einfach so davongemacht hatte. Er hätte doch … Hätte er? Gerade er,
der sich in den letzen Jahren, nein Jahrzehnten als definitiv beziehungsunfähig
erwiesen hatte. Er sah nochmals auf das Blatt. Hier ging es um die entgleisten
Söhne. Von denen war hier die Rede und von einer menschlichen Kernkompetenz:
Feigheit. Plötzlich schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf. Was, wenn diese
Wahnsinnigen etwas mit den Todesfällen zu tun hatten? Hatten die denn Kontakt
zu Leo Lang? Er konnte den Gedanken nicht recht fassen, er sah Miri da liegen,
sah sie immer nur liegen.
Evi legte die Blätter zusammen. Sie sortierte sie und stapelte sie
millimetergenau übereinander. Übersprungshandlungen. Reden fiel ihnen beiden
schwer. Schließlich sagte Evi: »Der Abschiedsbrief ist auf dem Laptop. Genau
wie diese Seiten. Sie hat das alles auf demselben Drucker rausgelassen.«
Gerhard sah zu Boden. »Du meinst also, es ist nicht ungewöhnlich,
dass sie ihren Abschiedsbrief nicht unterschrieben hat?«
»So ähnlich.«
»Lassen wir das Glas und die Flasche untersuchen?«
»Sicher«, sagte Evi. »aber ich glaube nicht, dass wir da etwas
finden werden.«
Nein, was sollten sie schon finden außer Miris DNA ?
»Baier muss noch eine Aussage machen«, sagte Evi ganz sanft.
»Sicher, aber geben wir ihm noch etwas Zeit.«
»Von mir aus bis Montag, ich bin zwar nicht da, aber du machst das
ja sicher«, sagte Evi.
Lag darin nicht doch ein leiser Vorwurf, dass er ja ständig was
allein machte? Wahrscheinlich nicht, er war einfach überempfindlich heute. Evi
sollte auf eine Fortbildung gehen, und sie würde natürlich brillant
abschneiden. Wie hatte ein erfahrener Kollege erst kürzlich gesagt: Frauen
schneiden stets besser ab als die männlichen Kollegen. Frauen waren ehrgeizig
und zielstrebig, natürlich konnten sie Karriere machen bei der Polizei und
würden das in Zukunft auch tun. Was die Männer momentan noch rettete, waren
Schwangerschaften.
Er verabschiedete sich von Evi mit den Worten »Viel Erfolg« und
ging. Der Rest des Tages war weg. Plötzlich war es Abend; gab es Tage, die
einfach so verdampften? Die sich in Wasserdampf auflösen konnten oder in Luft?
Zum Glück kam Hajo des Weges und lud zum Grillabend. Gerhard aß fast gar nichts
und trank umso mehr. Gleichmäßig und lange. Die Vögel hatten wieder zu
zwitschern begonnen. Hajo war im Gartensessel eingenickt, Gerhard ging zu Bett
und erwachte um zwei Uhr mittags mit bohrendem Schmerz. Im Kopf und im Herzen.
Als Baier Montagmorgen in sein Büro kam, wirkte er gefasst. »War
grad bei den Kollegen wegen meiner Angaben. Wann ich sie gefunden habe und so.«
Und so … oh ja, und so. Und nun? Wollte Baier auf einen kleinen
Plausch vorbeikommen?
»Kaffee?«, fragte Gerhard.
»Ist der ähnlich scheußlich wie zu meinen Zeiten?«
»Scheußlicher.«
Sie redeten so hin und her. Zwei Männer, die verloren hatten. Sie
plänkelten, sie spielten Normalität. Gerhard hatte Kaffee geholt.
»Wirklich scheußlich«, sagte Baier, und auf einmal rief er: »Sie hat
sich zu öffentlich gemacht, Weinzirl!«
»Miri?«
»Ja natürlich, wer sonst.« Baier brauchte ein Ventil für seine Wut,
die doch nur aus der Trauer kam.
»Öffentlich? Das heißt?« Gerhard sprach leise.
»Sie war so arglos, ja fast naiv, obwohl sie intelligent war. Sie
hat an dass Gute in den Menschen geglaubt. Sie hatte das Herz auf der Zunge.
Zumindest anfangs.«
»Sie meinen, sie hat zu viel gesagt?«
»Ja. Und an den falschen Stellen.«
»Falsche Stellen?«
»Weinzirl, Sie kennen das! Sie würden das nie tun! Ich auch nicht!
Ich red von Stammtischen. Es gibt ungeschriebene Gesetze an Stammtischen. Man
wird nicht zu privat. Man wettert über die Politik, lokal, regional und über
die Bundespolitiker. Schlagworte reichen. Man lästert immer über den, der
gerade gegangen ist. Man bleibt am besten als Letzter sitzen. Und man macht
dumme Witze, in die alle anderen grölend einfallen.«
Gerhard wusste, was Baier meinte.
»Sie meinen, Miri hat zu viel Angriffsfläche geboten?«
»Ja, sie und ihr Mann. Sie mehr als er. Eine Frau, ich bitt Sie,
Weinzirl. Natürlich dürfen Frauen an Stammtischen sitzen,
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