Markttreiben
Quatsch! Gerhard blickte über
den Rand der Klippe. Sie fiel in einer ersten Stufe ab, ein kleiner Trampelpfad
klebte zwischen niedrigem Buschwerk. Dann kam die Steilstufe, Gerhard nahm an,
dass das Gelände danach sicher zweihundert Meter ins Bodenlose stürzte. Die
Warzenschweine mussten gut zu Fuß sein, wenn sie hier über den Trampelpfad
preschten. Es blieb still, weit ging der Blick, die Schatten wurden länger.
Plötzlich hörte Gerhard Geraschel und Getrappel, er fuhr herum. Piet sprengte
heran.
»Keine Warzenschweine?«, fragte Gerhard.
»Nein.« Piet stand nun mit seinem Pferd ganz dicht vor ihm. »Gibst
du mir das Fernglas?«
Gerhard reichte es ihm herüber, und in dem Moment hatte Piet seinen
Arm gepackt. Es war alles eine geschmeidige Bewegung. Wie ein Raubtier war er
über ihn gekommen, und nun stand da Gerhard mit nach hinten verdrehtem Arm.
Piet hatte ihn an den Sattel gepresst, Gerhard spürte Piets Stiefel im Rücken.
»Was soll das? Spinnst du?«
»Einzelkämpfertraining, würde dir auch guttun. Bei deinem Job. Man
wird doch gerne mal überfallen so des Nachts im Lkw.«
Piets Lachen klang ganz anders als sein fast zärtliches Lachen am
Vormittag. Die Zärtlichkeit für die Tiere war weg. Und Piet sprach Deutsch,
astreines Deutsch mit süddeutschem Akzent.
»Lass mich sofort los! Was, glaubst du, bringt dir das?«
»Aber Kommissar Weinzirl, nun enttäuschen Sie mich.«
Er wusste es. Er hatte es immer gewusst, und er, Gerhard, war in die
Falle getappt. Wie ein Anfänger.
»Meine Mutter hat mich informiert. Dass Herr Baier bei ihr war. Dass
er seltsame Fragen gestellt hatte. Dass eine CD fehlt und das Buch mit den Überweisungen. Dass mit allem zu rechnen sei. Wir
sind gerne ein wenig misstrauisch. Ein Familienproblem. Ich habe die letzten
Tage alle meine Gäste genau angesehen. Ihr habt euch ziemlich dumm angestellt.
Wenigstens neue Namen hättet ihr euch aussuchen können. Herr und Frau
Weinzirl.« Der Druck des Stiefels verstärkte sich.
Gerhard versuchte den Schmerz zu ignorieren. Auch die Frage
hintanzustellen, wie Maria Paulus den Sohn hatte informieren können. Er gab
sich cool und konterte: »Peter Paulus, willkommen in der Realität. Haben Sie
Ihren alten Pass noch?«
Piet schnaubte. »Du warst an meinem Computer, was?«
»Der nicht sehr auskunftsfreudig war. Pässe gab’s auch nur aus
Südafrika. Aber dein altes Federmäppchen, Piet-Peter. Das hat dich verraten!
Peter Paulus wird zu Piet Patterson. Warum? Warum dieses Theater? Warum
inszeniert man seinen eigenen Tod?«
Piet gab Gerhard einen jähen Stoß, und der stolperte vorwärts über
die Kante, über den Trampelpfad, er riss sich die Wangen auf an einem der
Stachelbüsche und kam wieder hoch.
Piet war blitzschnell wie eine Raubkatze vom Pferd geglitten. Nun
standen sie an der zweiten Kante, hinter ihnen lag nichts als der Abgrund.
Piet-Peter hatte eine Pistole gezogen.
»Kommissar Weinzirl, Gerhard aus dem schönen Weilheim. Du wirst
jetzt dort hinunterfallen. Ein bedauerlicher Unfall! Du warst so euphorisch bei
der Zählung. Ich hab dir noch gesagt, dass du vorsichtig sein sollst. Aber vor
lauter Schauen und Aufschreiben, tja … Ich wollte dich noch retten, aber leider
…!« Er lachte wieder, seine Augen waren zusammengekniffen. Raubkatzenaugen.
»Jo weiß, warum wir hier sind. Damit kommst du nicht durch!« Gerhard
versuchte ruhig zu bleiben.
»Die schöne Johanna. Ist sie überhaupt deine Frau? Ich glaube nicht!
Du hast sie in Gefahr gebracht. Es wäre schade, wenn ihr auch noch etwas
zustoßen würde. Aus Gram über deinen Tod wollte sie Abschied nehmen und fällt
über dieselbe Klippe? Herr Kommissar, glaube mir, um mich zu schlagen, müsst
ihr besser sein. Mich kann man nicht schlagen. Ich bin auferstanden von den
Toten.« Sein Lachen wurde noch bitterer.
»Warum hast du deinen Tod inszeniert?« Gerhard wollte Zeit gewinnen.
»Wenn man ein Lawinenunglück überlebt, dankt man dem Schöpfer. Man jubelt und
umarmt das Leben. Du bist untergetaucht. Warum?«
»Warum? Weil das Leben manchmal Weichen stellt! Ich war lange
bewusstlos, keine Ahnung, wie lange. Ich war tot, verstehst du? Ich war in
einer andern Welt, die weiß war und weich. Die mich auffing wie ein Daunenbett.
Dann wachte ich auf. Ich hatte Schmerzen, aber ich bekam Luft. Es hatte sich eine
Höhle gebildet. Ich begann zu graben. Mit den Händen, mit einer Skispitze. Es
fühlte sich an wie die Ewigkeit und war doch noch Morgen, als ich im
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