Markttreiben
er aufgenommen hatte, ohne groß zu fragen.
Dass er immer gewusst hatte, dass sein Mitarbeiter aus Süddeutschland stammte.
Baier muss irgendwie in der Frühe schon über München oder Berlin – keine
Ahnung, wie er das bewerkstelligen konnte – eine Lawine losgetreten haben.« Jo
nahm einen Schluck Bier.
Eine Lawine losgetreten, ja, damit hatte alles begonnen.
Jo hatte Mühe, tränenfrei zu reden. »Jedenfalls muss es ihm gelungen
sein, dass irgendwie die südafrikanische Polizei in Bewegung gesetzt wurde, die
dann am Nachmittag hier eingetroffen ist. Zu spät, wenn nicht Paul …« Jo
schluckte.
Ein Mädchen vom Personal war eingetreten. Helen stand auf und ging
ihr entgegen. Sie flüsterte Helen etwas ins Ohr und huschte wieder hinaus.
Helen straffte die schmalen Schultern und wandte sich an Gerhard.
»Morgen früh kommt ein Taxi, das euch abholt. Ihr müsst eine Aussage
in Johannesburg machen. Samuel White kommt heute nicht mehr, er trifft euch
morgen in Johannesburg. Ihr habt dann am Abend einen Flieger zurück nach
München.«
Helen war immer noch wie versteinert. Gerhard sah sie an. »Helen, es
tut mir leid, dass ich euch da alle mit hineingezogen habe. Ich hätte das nie
tun dürfen, an den offiziellen Wegen vorbeiagieren. Ich war wie von Sinnen. Ich
habe mein klares Denken verloren.«
Ja, es tat ihm leid, er wiederholte sich mit seinen
gebetsmühlenartigen Bekundungen.
»Was ist denn nun mit Piet?«, fragte Jo.
»Sie haben ihn mitgenommen.« Helen flüsterte fast. Sie verlor sich
im Türrahmen. Sie wirkte so zart zwischen den schweren dunklen Balken. »Wie
soll das hier denn nur weitergehen?«
»Wie immer. Ihr macht weiter wie immer. Wir haben alle zu jeder Zeit
weitergemacht, Helen!« Paul sah sie eindringlich an.
»Es ist mühsam, immer wieder die Heimat zu verlieren.«
»Du wirst sie nicht verlieren, Helen. Du wirst hier gebraucht. Du
bist die Seele der Lodge. Du kennst die Tiere. Nun warte doch erst einmal ab.«
Paul war zu ihr hinübergegangen und nahm sie in den Arm. Nun begann sie zu
weinen, endlich! Jo heulte mit, und Gerhard hielt sich krampfhaft an seinem
Bier fest. Es wurden noch viele weitere Biere, lange Erzählungen über Piet. Sie
verhielten sich wie Trauergäste auf einer Beerdigung, die nicht müde wurden,
alte Geschichten zu erzählen. Weil das tröstete und den Verstorbenen ein Stück
weit am Leben erhielt.
Gerhard erwachte mit Schmerzen. Er versuchte sich zu orientieren.
Er lag noch immer im Kaminzimmer, jemand hatte ihn fürsorglich mit einer
Wolldecke zugedeckt. Eine Decke mit Safarimotiven. So fürsorglich, wie Miri das
damals getan hatte. Auf einmal flossen Tränen. Gerhard wusste, dass er nun
schon zum zweiten Mal heulte. Wegen Miri. Männer weinten doch nicht. Jemand
hatte altmodische Krücken an die Couch gelehnt, er kam sich vor wie in einer
Filmszene. »Der englische Patient«, dachte er. Er aber war kein
hollywoodtauglicher Graf Almásy, er war ein Allgäuer Patient und der größte
Idiot von allen. Sein Fuß war dick wie ein Klumpen, er krückte nach draußen, wo
die Webervögel wieder in den Morgen hineinlärmten. Jo kam in ein Badetuch gehüllt
über den Rasen, sie hatte eine Tasse Tee in der Hand. Es war sechs Uhr.
»Wir haben dich liegen lassen, du bist eingeschlafen.« Sie lächelte
müde. »Ich hab gepackt, es ist alles fertig.«
»Danke. Hast du überhaupt geschlafen?«
»Drei, vier Stunden. Du weißt ja, Schlaf wird total überbewertet.«
Sie versuchte fröhlich zu klingen, locker.
»Jo, ich, ich … es war Wahnsinn, was ich dir zugemutet habe.«
»Nein, es war, wenn überhaupt, meine Schuld. Ich hätte Nein sagen
müssen. Aber ich wollte hierher. Unbedacht, wie ich halt immer war und bin.«
Sie setzten sich um sieben an den Frühstückstisch, Gerhard hatte
Hunger, obwohl er das als unpassend empfand. Jo langte auch zu, es war das
Essen der Übernächtigten, der Verkaterten. Essen als Übersprungshandlung.
Essen, um dem Reden zu entgehen. Paul hatte auch auf der Farm übernachtet und
wirkte ungewöhnlich frisch. Helen huschte ganz kurz vorbei mit einigen Papieren
in der Hand.
»Ich verabschiede euch nachher, ich muss einiges vorbereiten. Heute
kommen neue Gäste, eine größere Gruppe.«
Die Honeymooner und die Engländerinnen tauchten kurz vor acht auf.
Es war keine Zeit mehr für Erklärungen, nur für Verabschiedungen. Ein paar
E-Mail-Adressen wurden ausgetauscht. Gerhards und Jos Gepäck stand bereits in
der Auffahrt, und Gerhard humpelte
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