Marlene Suson 2
diesem Abend mit ihrer Arbeit fertig war, beschloß sie, ein Jagdhemd für Stephen zu nähen.
Es war nicht sonderlich schwierig, ein solches Kleidungsstück anzufertigen, denn da es lose und bequem sein sollte, brauchte es nicht auf Figur geschneidert zu werden. Man mußte es nur zuschneiden und zusammennähen.
Viel schwieriger war das Problem, woraus man es machen sollte. Das einzige Material, das Meg zur Verfügung stand, wa- ren gegerbte Rehhäute, aus denen sie eigentlich eine Hose und ein Jagdhemd für Josh machen wollte. Es paßte ihr gar nicht, daß sie das gute weiche Leder jetzt an einen Fremden vergeuden sollte. Aber etwas anderes hatte sie nicht.
Ursprünglich hatte sie vorgehabt, Stephen ein paar Sachen
ihres Stiefvaters zu geben. Doch Charles’ Kleider waren viel zu elegant und hier in der Wildnis völlig unpraktisch.
Und was noch schwerer wog, ein Flüchtling in solchen Klei- dern – Megs gesunder Menschenverstand sagte ihr, daß Stephen Wingate nichts anderes sein konnte – würde sofort die Aufmerk- samkeit der Leute auf sich ziehen. Es würde ihm nie gelingen, unbehelligt bis nach New York zu kommen, falls dies überhaupt sein Ziel war. Hier in dem rauhen, unzivilisierten Grenzland würde er auffallen wie ein bunter Hund.
Meg wollte nicht, daß man ihn fing und in das Leben zurück- zwang, dem er entronnen war. Sie schauderte bei dem Gedanken an seinen zerfetzten Rücken. Was immer er auch getan ha- ben mochte, eine so grausame Behandlung war mit nichts zu rechtfertigen.
Sie ging zu der Truhe mit den Kleidern ihres verstorbenen Stiefvaters und holte ein Hemd heraus.
Nach diesem Muster schnitt sie flink Vorder– und Rückenteil zu, machte alles jedoch ein bißchen schmaler, dafür aber etwas länger. Ihr Stiefvater war kleiner, doch nicht so schlank wie Stephen gewesen. Josh reinigte sein Gewehr und war so in seine Aufgabe vertieft, daß er nicht weiter auf Meg achtete. Auch Stephen schwieg, doch sie fühlte seinen Blick auf sich ruhen. Sie mußte daran denken, wieviel Mitgefühl er ihr entgegengebracht hatte, als sie ihm von Charles erzählte, und wie gut es ihr getan hatte, sich ihm anzuvertrauen. Seit dem Tod ihres Vaters hatte es keinen Menschen mehr gegeben, mit dem sie so offen hatte reden können.
Als Meg sich in ihren Schaukelstuhl setzte, um die einzelnen Lederteile zusammenzunähen, fragte Stephen: „Was machen Sie da?“
„Ein Jagdhemd für Sie. Damit Sie etwas zum Anziehen haben, wenn Sie uns verlassen.“
Das dankbare Aufblitzen in Stephens Augen belohnte sie für die Mühe, die sie sich seinetwegen machte.
Sie merkte, daß er sie beim Nähen beobachtete, und schaute auf. Auf seine Bitte hin hatte sie ihm am Nachmittag das rabenschwarze Haar geschnitten, und er hatte es ordentlich zu- rückgebürstet. Jetzt schenkte er ihr ein so bestrickendes Lächeln, daß ihr Herz zu rasen begann. Sie hatte das Gefühl, unter diesem Lächeln einfach dahinzuschmelzen.
Aber dann preßte sie entschlossen die Lippen zusammen. Sie durfte nicht zulassen, daß dieser Mann sie mit seinem Charme einwickelte, wie er es gewiß schon mit zahllosen Frauen getan hatte.
Hatte er eine dieser Frauen aufrichtig geliebt? Und wenn auch nur für einen flüchtigen Augenblick?
Wieder fiel ihr ein, wie er im Fieber nach Rachel gerufen hatte. Und dann sein Zögern, als sie ihn nach einer Braut fragte. Wahr- scheinlich war Rachel diese Braut, die er nun verleugnete. Meg spürte einen dumpfen Schmerz in der Herzgegend.
Sie erinnerte sich auch an andere Einzelheiten aus seinem Fieberwahn. Warum wollt ihr mir nicht glauben? Ich schwöre, ich bin Earl . . . Arlington.
Die Erinnerung daran, wie vehement er darauf bestanden hatte, Earl Arlington zu sein, bestärkte sie in ihrem Entschluß, sich nicht von ihm an der Nase herumführen zu lassen. Dieser Mann, der sich Stephen Wingate nannte, mußte ein Lügner sein – und womöglich noch ein gefährlicher Verbrecher obendrein.
Sie müßte ja verrückt sein, einem solchen Mann ihr Vertrauen zu schenken.
Und Megan Drake war nicht verrückt.
6. KAPITEL
Als Meg am folgenden Tag ins Blockhaus trat, brachte sie eine große Holzschüssel voller Erbsenschoten mit, die sie in ihrem Gemüsegarten gepflückt hatte. Josh war auf die Jagd gegangen, und Stephen saß aufrecht im Bett. Der erleichterte Ausdruck, der sich bei ihrem Eintritt über sein Gesicht breitete, überraschte sie.
„Wo, zum Teufel, sind Sie so lange gewesen?“ stieß er vor- wurfsvoll hervor. „Ich
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