Marlene Suson 2
erleichterten Seufzer. Um ihn konnte es sich bei dem Gesuchten nicht handeln.
Meg faltete das Blatt wieder zusammen und reichte es Wilhelm. „Es überrascht mich, daß es an deinem Zaun hing. Sonst hängen diese Steckbriefe doch immer im Wirtshaus, wo alle sie sehen.“
„Vielleicht hängt dort ja auch einer.“ Wilhelm steckte das Blatt wieder ein. „Kann ich irgendwas für dich tun, wenn ich schon mal hier bin?“
„Nein, danke. Du hast schon so viel für uns getan. Ich wünschte, ich könnte mich irgendwie revanchieren.“
Da Stephen ganz sicher war, welche Art Dank Wilhelm von Meg erwartete, überraschte es ihn, als der Riese erwiderte: „Du hast dich längst revanchiert. Vergiß nicht, daß du meiner Frau und meinem kleinen Willy das Leben gerettet hast.“
Stephens Gefühle für Wilhelm wandelten sich schlagartig, als er erfuhr, daß er offenbar Frau und Kind hatte.
Als der Riese wieder gegangen war, fragte Stephen: „Wie haben Sie seiner Frau und seinem Kind das Leben gerettet?“
„Willy war eine Steißgeburt, und eine Zeitlang ...“ Meg hob die Schultern. „Aber wir hatten Glück, und alles verlief glimpf- lich.“
Sie sagte das so gelassen, als wäre eine solche schwere Geburt etwas ganz Alltägliches. Was für eine großartige Frau sie doch war! Wieder war er tief beeindruckt von ihrer inneren Kraft und ihrer Ruhe und Umsicht in Situationen, in denen andere Frauen meistens in hilflose Hysterie verfielen.
Bewundernd schaute er auf ihre schmalen Hände. Es war schon erstaunlich, was sie alles leisteten.
„Ich weiß gar nicht, was wir ohne Wilhelm gemacht hätten“, sagte Meg warm. „Obwohl er auf seiner eigenen Farm alle Hände voll zu tun hat, hilft er uns, wo er nur kann. Er hat uns so unendlich viel beigebracht.“
„Dieser begriffsstutzige Schwachkopf soll Ihnen etwas beige- bracht haben?“ stieß Stephen ungläubig hervor.
Heißer Zorn schoß in Megs graue Augen. „Er ist kein Schwach- kopf! Er zieht es nur vor nachzudenken, bevor er etwas sagt. Es könnte nicht schaden, wenn andere Leute sich das auch zur Gewohnheit machen würden. Und er ist auch nicht be- griffsstutzig. Er hat lediglich eine andere Erziehung genossen als Sie.“
Ihre leidenschaftliche Parteinahme für Wilhelm reizte Ste- phen zu der verächtlichen Bemerkung: „Er kann ja nicht mal lesen.“
„Mag sein. Aber wenn es darum geht, eine Farm zu betreiben und sich hier im Grenzland zu behaupten, da macht ihm keiner etwas vor. Wilhelm ist der einzige Mann, dem ich zutraue, mehr Hilfe als Last zu sein.“
Diese Spitze hatte gesessen und trieb Stephen zu dem gewagten Ausspruch: „Sie wissen ja gar nicht, was ich alles kann.“
„Das werde ich auch nie erfahren, denn ich erwarte, daß Sie verschwinden, sobald Sie dazu in der Lage sind.“
„Ihr Wunsch ist mir Befehl“, gab er steif und tief gekränkt zu- rück. „Ich bin genauso versessen darauf, von hier wegzukommen, wie Sie.“
An diesem Abend – Meg machte gerade die letzten Stiche an Stephens Jagdhemd, und ihr Bruder reinigte sein Gewehr – sagte Josh: „Spiel doch ein bißchen auf der Flöte für uns, Meg.“
Sie hätte es gern getan, doch sie hatte keine Zeit. „Ich muß erst das Hemd fertigmachen, damit unser Gast uns so bald wie möglich verlassen kann.“
„Es kann Ihnen wohl gar nicht schnell genug gehen“, bemerkte Stephen, der aufrecht im Bett saß, spöttisch. „Haben Sie keine Angst, daß Sie mich vermissen werden?“
Diese Angst hatte Meg tatsächlich, doch das würde sie na- türlich nicht zugeben. „Höchst unwahrscheinlich“, erklärte sie spitz und fuhr dann fort: „Selbst Shakespeare wußte schon, daß ungebetene Gäste stets dann am willkommensten sind, wenn sie sich wieder auf die Strümpfe machen.“
Josh schaute von seinem Gewehr auf. „Apropos Shakespeare, Meg, du hast versprochen, mir aus ,Macbeth’ vorzulesen. Ich finde es so schön, wenn du vorliest, weil es dann so lebendig wirkt.“
„Vielleicht, wenn ich das Hemd fertig habe.“
„Würden Sie mir erlauben, Ihnen vorzulesen?“ fragte Stephen und sah Meg bittend an. „Dann könnte ich mich ein bißchen für das Hemd erkenntlich zeigen.“
Sein Angebot gefiel ihr. Sie legte das Hemd beiseite und ging hinüber zu dem kleinen Lederkoffer, der ihre kostbarsten Besitz- tümer enthielt. Dazu gehörten auch die wenigen Bücher, die sie mitbringen durfte. Ihr Vater hatte auf Ashley Grove zwar eine umfassende Bibliothek besessen, doch Charles hatte ihr nicht
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