Marlene Suson 2
Meg war stolz darauf, daß ihre Stimme so unbeteiligt klang.
„Ich werde mich in nordwestlicher Richtung halten und hoffe, bis New York durchzukommen. Ich bete zu allen Heiligen, daß mein Bruder noch dort ist.“
Und Meg betete, daß Stephen es schaffte. Um hier in diesem wilden Grenzland zu überleben, brauchte man Fähigkeiten, die er, wie sie fürchtete, nicht hatte. „Wenn Sie morgen gehen, fol- gen Sie dem Pfad durch den Wald bis zur Straße, und halten Sie sich dann nördlich. Die Straße führt nach Pennsylvania. Von dort kommt übrigens Wilhelm, und er könnte Ihnen vielleicht ein paar Tips geben, wie Sie von dort weitergelangen. Seine Farm liegt nur eine halbe Meile entfernt, und Sie kommen auf Ihrem Weg bei ihm vorbei.“
Es gelang Meg, ihre Stimme so sachlich klingen zu lassen, daß Stephen gewiß nicht ahnen würde, in welchem Aufruhr sich ihre Gefühle befanden.
Es hörte sich an, als hätte er wirklich einen Bruder in New York. Wieder fragte Meg sich, ob er tatsächlich ein Gentleman war, wie er behauptete, oder der gefährliche Sträfling, auf den die Spuren an seinem Körper hinwiesen. Meg wußte einfach nicht mehr, was sie von diesem Fremden halten sollte.
Sie wußte nur, daß sie ihn vermissen würde.
Sie machte sich daran, einen extra hohen Stapel Maiskuchen zu backen, die er als Wegzehrung mitnehmen sollte.
Als sie damit fertig war, hatte sie das Bedürfnis, ein wenig allein zu sein, um über die widersprüchlichen Gefühle nachzu- denken, die sie bei dem Gedanken an sein Fortgehen bestürmten. Sie nahm eine Decke und einen Holzkübel, in den sie Kamm, Bürste, Handtuch und Seife legte, und verließ das Blockhaus.
„Wo wollen Sie hin?“ rief Stephen ihr nach.
„Zur Wasserstelle“, gab sie zurück und machte sich auf den
Weg, der zwischen Myrten, Zedern und Ahornbäumen hinunter zu der Wasserstelle führte.
Dort befand sich eine Quelle, aus der klares, kühles Wasser sprudelte. Über einen Felsen schoß es in einem kleinen Wasser- fall hinunter in den Fluß, der ihr Grundstück durchquerte und später in den Gerando River mündete. Aus dieser Quelle pflegten sie ihr Wasser zu holen.
Meg ging zu einer Stelle unterhalb des Wasserfalls, wo es ei- nen kleinen, halbmondförmigen Sandstreifen am Flußufer gab. Es war ein schöner, friedlicher Ort. Das Blockhaus konnte man von hier aus nicht sehen, weil die Stelle tiefer lag und durch den dichten Baumbewuchs geschützt war.
Meg breitete die Decke auf dem Sand aus, der von der Mittags- sonne ganz warm war. Dann leerte sie den Inhalt des Holzkübels auf die Decke und füllte ihn mit Wasser. Sie nahm ihre Haube ab, zog die Nadeln aus ihrem langen honigblonden Haar, bürstete es durch und wusch es dann in dem Kübel.
Normalerweise wusch sie sich die Haare im Blockhaus, doch sie brachte es einfach nicht fertig, dies in Stephens Gegenwart zu tun. Es schien ihr eine zu intime Tätigkeit zu sein, um sie in Gegenwart eines Mannes zu verrichten. Eigentlich sonderbar, denn sie hatte es oft genug getan, wenn ihr Bruder anwesend war. Lag es vielleicht an Stephen Wingate, daß sie sich genierte, es in seinem Beisein zu tun?
Nachdem sie die Seife herausgespült hatte, kämmte Meg ihr Haar durch und legte sich dann bäuchlings auf die Decke. Sie breitete die nassen Strähnen um ihren Kopf herum aus, damit die Sonne sie trocknen konnte. Ein paar Minuten später überwältigte die Müdigkeit sie, und sie schlief ein.
Ungeduldig wartete Stephen auf Megs Rückkehr. Er vermißte sie, wenn sie nicht im Blockhaus war, vermißte ihre leise, melodische Stimme und die Berührung ihrer Hand.
Es kränkte ihn, daß Meg sich offenbar gar nichts aus seinem Fortgehen machte. Es hatte den Anschein, als wäre es ihr völlig gleichgültig. Er hatte gehofft, daß sie wenigstens diese restli- chen paar Stunden hier mit ihm verbringen würde, doch sie war einfach gegangen.
Ruhelos ging er zur Haustür und schaute hinaus, doch er konnte sie nirgendwo entdecken.
Obwohl seine Kräfte noch immer nicht gänzlich zurückgekehrt waren, wagte er es nicht, sich noch länger hier aufzuhalten. Er war schon viel zu lange hier.
Trotzdem fiel es ihm schwer, das Blockhaus und die Frau, die darin lebte, zu verlassen. Er redete sich ein, daß es nur daran lag, daß sie so gut zu ihm gewesen war. Weil sie seit langer Zeit der erste Mensch gewesen war, von dem er Hilfe und Zuwendung empfangen hatte. Es lastete auch schwer auf seinem Gewissen, daß er sie hier in diesem unwirtlichen
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