Marlene Suson 3
verschwand.
Tränen stiegen Daniela in die Augen. Wie sehr sie diesen Mann liebte! Zu sehr, um seinen Traum zunichte zu machen. Du solltest am besten eine Nonne heiraten.
Daniela dachte an all die armen Menschen, für die Morgans Modellkommune die einzige Chance darstellte, dem Armenhaus zu entkommen und ein einigermaßen menschenwürdiges Leben zu führen. Selbst wenn sie Morgan nicht so geliebt hätte, sie könnte es nicht auf ihr Gewissen nehmen, den Menschen diese Chance zu verbauen.
Niedergeschlagen schaute sie aus dem Fenster. Der Regen fiel beständig aus einem Himmel, der so grau und bleiern war wie ihre Stimmung. Nur Daniela wußte, daß ihr an Morgan gerich- tetes „gute Nacht“ in Wirklichkeit ein Lebewohl war. So sehr es ihr auch widerstrebte, ihn und das friedvolle, glückliche Royal Elms zu verlassen, sie würde heute nacht fliehen. Je länger sie blieb, desto schwerer würde ihr der Abschied fallen.
Nach dem mißglückten Fluchtversuch an ihrem ersten Morgen auf Royal Elms hatte sie keinen weiteren mehr gemacht. Am Ende der ersten Woche ihres Aufenthalts auf dem Landgut hatte man aufgehört, die Stallungen rund um die Uhr zu bewachen. Daniela schätzte, daß Mitternacht wohl der beste Zeitpunkt wäre, um
sich unbemerkt davonzuschleichen. Hoffentlich hörte der Regen bis dahin auf.
Der Gedanke, nach Greenmont und zu Basils Tyrannei zurück- zukehren, lastete schwer auf ihr. Doch wohin konnte sie sonst gehen? Sie dachte an den Pfarrer, aber sie konnte ihn unmöglich bitten, sie ebenso aufzunehmen wie Neil. Immerhin war ihr Vater sein Patron. Wenn der Pfarrer ihr half, würde Basil dafür sor- gen, daß er seinen Posten verlor. Somit blieb nur noch Charlotte Fleming.
Danielas Flucht von Royal Elms blieb unbemerkt. Zum Glück hatte der Regen aufgehört, und der Nachthimmel klärte sich allmählich auf. Obwohl der Mond noch immer von Wolken ver- deckt war, spendeten die Sterne genug Licht, um Daniela die Orientierung zu erleichtern.
Sie trug wieder ihr Gentleman-Jack-Kostüm und darüber den schwarzen Mantel. Das Haar hatte sie unter dem breitkrempigen Hut verborgen.
Daniela wünschte, sie hätte ihre Pistolen dabei, doch Morgan hatte sowohl ihre als auch seine irgendwo versteckt. Es paßte ihr gar nicht, daß sie ihre Waffen zurücklassen mußte, aber sie hatte keine Ahnung, wo Morgan sie verwahrte, und nicht genug Zeit, um danach zu suchen. Wahrscheinlich würde sie sie auch gar nicht brauchen. Sie plante ja keinen Überfall, sondern wollte nur zurück nach Warwickshire.
Sie würde auch die ganze Nacht durch reiten, wie sie es mit Morgan getan hatte. Wenn sie von der Zeit ausging, die sie ge- braucht hatten, um nach Royal Elms zu gelangen, müßte sie ei- gentlich am späten Vormittag des nächsten Tages bei Charlotte eintreffen.
Als dann jedoch der neue Tag grau und verhangen anbrach, stellte Daniela fest, daß sie längst noch nicht so weit gekommen war, wie sie gehofft hatte. Kurz nach ihrem Aufbruch von Royal Elms hatten die Wolken sich wieder verdichtet, und sie hatte in der Dunkelheit eine falsche Abzweigung genommen. Bis sie ih- ren Fehler bemerkt und korrigiert hatte, war ärgerlich viel Zeit verstrichen.
Doch sie ritt unverdrossen weiter. Zwei Stunden später kam sie an eine Straßengabelung. In einiger Entfernung entdeckte sie auf einem Hügel die verfallene Ruine einer alten Burg. Am Fuß des Hügels lag eine Ansiedlung, an der ein Flüßchen vorbeiführte.
Daniela war nach den vielen Stunden im Sattel hungrig und erschöpft. Da sie hoffte, im Ort einen Bäcker zu finden, wählte sie die entsprechende Straße. Als sie in den Ort einritt, las sie auf einem Schild den Namen: Tappenham.
Entmutigt stöhnte sie auf. Sie hatte gehofft, die Grenze von Warwickshire inzwischen erreicht zu haben, aber Tappenham lag noch mitten in Northamptonshire. Das bedeutete, daß sich noch ein langer Weg vor ihr erstreckte.
Auf der Hauptstraße entdeckte sie ein bunt bemaltes Laden- schild mit der Aufschrift: „Bäckerei G. Noll“. Daniela saß ab und betrat den Laden, in dem es köstlich nach frisch gebacke- nem Brot duftete. Ihr hungriger Blick heftete sich auf die run- den knusprigen Brotlaibe, die offenbar gerade aus dem Ofen gekommen waren.
„Was darf’s sein?“ fragte eine schrille Stimme.
Daniela hob den Blick von dem appetitlichen Gebäck. Die Stimme gehörte einer stämmigen Frau, deren graues Haar unor- dentlich unter eine Haube gestopft war, und die sie mit einem arg- wöhnisch
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