Marlene Suson 3
Der Mann hielt sich sehr aufrecht und wirkte in seiner hoheitsvollen Gelassenheit wie ein König. Er hatte ein auffallend gutgeschnittenes Gesicht mit einer aristokratischen Nase, hohen Wangenknochen und einer energischen Kinnlinie, ähnlich wie Morgan.
Beim Anblick des Herzogs wurde Danielas Mund trocken, und sie wäre am liebsten im Erdboden versunken.
„Morgan!“ rief der Herzog überrascht. Als er sah, in welch seltsamem Aufzug sein Bruder und dessen Begleiterin erschienen waren, verfinsterte sich sein Gesicht. „Was ist passiert?“
„Nicht, was du denkst“, versicherte Morgan rasch. „Ich habe mein Versprechen gehalten.“
Sichtlich erleichtert lächelte der Herzog, und die reservierte Strenge war wie weggeblasen. Er kam die Marmorstufen her- unter, um seinen Bruder zu begrüßen. Es war offenkundig, wie sehr die beiden einander zugetan waren.
Noch nie zuvor hatte Daniela den Herzog lächeln sehen, und es überraschte sie, wie sehr das Lächeln ihn verwandelte.
Er wandte sich seiner Frau zu. Das Lächeln auf seinem Gesicht vertiefte sich noch und war so voller Zärtlichkeit, daß Daniela
aus dem Staunen nicht herauskam. Er lächelt oft, seit er mit Rachel verheiratet ist. Aber welcher Mann würde das nicht!
Ja, dachte Daniela traurig, welcher Mann würde das nicht! Und das schloß gewiß auch den Bruder des Herzogs ein.
Rachel erwiderte das Lächeln ihres Mannes. Dann flog ihr Blick zu Daniela. „Willst du uns deine Freundin nicht vorstellen, Morgan?“
Rachel hatte eine überraschend tiefe, warme und sinnliche Stimme. Gab es denn nicht den geringsten Makel an diesem Mu- sterbild einer Frau? Was war ich doch für eine Gans, zu glauben, daß Morgan sich für einen Riesentrampel wie mich interessieren könnte, nachdem er sein Herz der unvergleichlichen Rachel zu Füßen gelegt hat.
„Dies ist Lady Daniela Winslow“, sagte Morgan. „Sie wird eine Weile bei uns bleiben.“
Bei dieser eigenmächtigen Entscheidung kam Leben in Da- niela. „Nein, das werde ich nicht! Ich reise gleich wieder ab.“
„Den Teufel wirst du“, beschied Morgan sie grimmig.
Rachels reizende Grübchen erschienen. „Ich freue mich so, daß Morgan Sie zu einem Besuch bei uns überredet hat, Lady Daniela.“
„Überredet!“ stieß Daniela empört hervor, ohne zu überlegen, daß sie sich damit selbst eine Blöße gab.
„Nun ja, überredet ist eigentlich nicht das richtige Wort“, gab Morgan ein wenig verlegen zu. „Ich ... hm ... habe sie entführt.“
„Oh, wie romantisch!“ rief Rachel begeistert. „Endlich hast du dich verliebt, Morgan!“
Wenn das nur wahr wäre, dachte Daniela wehmütig.
Morgan bedachte seine Schwägerin mit einem finsteren Blick. „Glaub mir, Rachel, mit Liebe hat das nichts zu tun“, brummte er verdrossen.
Daniela spürte, wie ihr bei seinem ungalanten Widerspruch die Schamröte ins Gesicht stieg. Was mußten der Herzog und die Herzogin nur von ihr denken!
„So?“ Jerome hob skeptisch die Brauen. „Welchen Grund hättest du sonst haben können, sie zu entführen?“
„Ich mußte verhindern, daß sie entweder erschossen oder aufgeknüpft wird.“
Daniela wand sich vor Verlegenheit. Wollte Morgan nun auch noch den letzten Rest ihrer Ehre zuschanden machen?
Rachels Augen wurden groß. „Aus welchem Grund sollte ihr ein so bizarres Schicksal drohen?“
Daniela hoffte zu Gott, Morgan würde ihr die Demütigung ersparen, diese Frage zu beantworten, doch wieder hatte der Himmel kein Einsehen.
„Sie ist dieser verdammte Hochstapler, der sich als Gentleman Jack ausgegeben hat.“
Daniela war sicher, daß der Herzog ihr in seinem Zorn auf der Stelle die Tür weisen würde.
Statt dessen warf er den Kopf in den Nacken und lachte schal- lend auf, als hätte sein Bruder einen guten Witz gemacht. Ver- mutlich hielt Seine Gnaden Morgans Behauptung tatsächlich für einen Witz.
Fragend sah Rachel Daniela an. „Weshalb haben Sie vorgege- ben, Morg ... Gentleman Jack zu sein?“
Ihr ungewollter Versprecher zerstreute auch den letzten Zwei- fel in Daniela und bewies, daß Morgan wirklich der legendäre Ritter der Landstraße gewesen war. Wer sollte es auch besser wis- sen als die Frau, die Gentleman Jack das Leben rettete, nachdem Fletcher auf ihn geschossen hatte?
Obwohl die Herzogin ihre Frage an Daniela gerichtet hatte, antwortete Morgan an ihrer Stelle. „Oh, ihre Motive waren durchaus nicht ehrenrührig. Lady Daniela hat meinem Anden- ken nicht geschadet.“
Wenigstens das
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