Marseille Trilogie - Total Cheops, Chourmo, Solea
Ärgernisses«, verbunden mit einer kleinen Moralpredigt.
Varounian ging als Erster. »Bullen wie Ihnen werden wir zeigen, wos langgeht«, sagte er schon halb in der Tür. »Bald. Wenn wir an der Macht sind.«
»Auf Wiedersehen, Monsieur Varounian«, antwortete Leila von oben herab.
Wenn Blicke töten könnten, wäre sie auf der Stelle umgefallen. Ich war mir nicht sicher, aber ich meinte, ihn zwischen den Zähnen »Schlampe« zischen zu hören. Ich hatte Leila zugelächelt. Wenige Tage später rief sie mich auf dem Polizeirevier an, um mir zu danken und mich für Sonntag zum Tee einzuladen. Ich hatte angenommen. Mouloud hatte mir gefallen.
Jetzt war Driss Lehrling in einer Autowerkstatt in der Rue Roger Salengro. Kader arbeitete bei einem Onkel in Paris, der dort einen Lebensmittelladen in der Rue de Charonne betrieb. Leila war an der Uni in Aix-en-Provence. Dieses Jahr machte sie einen Ab schluss in zeitgenössischer Literatur. Mouloud war wieder glücklich. Seine Kinder hatten ihren Platz gefunden. Er war stolz auf sie, besonders auf seine Tochter. Ich konnte ihn verstehen. Leila war intelligent und schön, sie fühlte sich wohl in ihrer Haut. Das Ebenbild ihrer Mutter, hatte Mouloud erzählt. Und mir ein Foto von Fatima gezeigt, von Fatima und ihm im Alten Hafen. Am Tag ihrer Wieder - begegnung nach Jahren. Er hatte sie dort unten abgeholt, um sie ins Paradies zu führen.
Mouloud öffnete die Tür. Seine Augen waren rot gerändert.
»Sie ist verschwunden. Leila ist verschwunden.«
Mouloud machte Tee. Er hatte seit drei Tagen nichts von Leila gehört. Das war ungewöhnlich, das wusste ich. Leila hatte Respekt vor ihrem Vater. Er mochte es nicht, wenn sie Jeans trug, rauchte oder einen Aperitif trank. Das sagte er ihr auch. Sie diskutierten darüber, manchmal schrien sie sich an. Aber er hatte nie versucht, ihr seine Ideen aufzuzwingen. Er vertraute Leila. Deshalb hatte er ihr erlaubt, ein Zimmer auf dem Universitätsgelände in Aix zu nehmen, unabhängig zu leben. Sie rief jeden Tag an und kam sonntags zu Besuch. Oft blieb sie über Nacht. Driss überließ ihr dann das Sofa im Wohnzimmer und schlief bei seinem Vater.
Leilas Schweigen war besonders beunruhigend, weil sie nicht einmal angerufen hatte, um zu sagen, ob sie ihre Magisterprüfung bestanden hatte.
»Vielleicht ist sie durchgefallen. Sie schämt sich ... Sie hockt in ihrer Ecke und weint. Sie traut sich nicht, zu kommen.«
»Vielleicht.«
»Du solltest sie suchen gehen, M'sieur Montale. Ihr sagen, dass es nicht schlimm ist.«
Mouloud glaubte selber nicht, was er sagte. Ich auch nicht.
Wenn sie durchgefallen wäre, hätte sie geweint, ja. Aber sich in ihrem Zimmer vergraben, nein, das konnte ich nicht glauben. Außerdem war ich überzeugt, dass sie bestanden hatte. Die Poesie und die Pflicht zur Identität. Ich hatte die Arbeit vor vierzehn Tagen gelesen und fand sie bemerkenswert. Aber ich war nicht die Prü - fungskommission, und Leila war Araberin.
Sie hatte sich von dem libanesischen Schriftsteller Salah Stétié inspirieren lassen und einige seiner Argumente weiterentwickelt. Sie baute Brücken zwischen Morgen-und Abendland. Quer übers Mittelmeer. Sie machte darauf aufmerksam, dass unter den Zügen von Sindbad dem Seefahrer aus Tausendundeiner Nacht die eine oder andere Episode der Odyssee und der sprichwörtliche Scharfsinn des listigen Odysseus durchschienen.
Vor allem ihre Schlussfolgerung gefiel mir. Für sie, Kind des Orients, wurde die französische Sprache zu jenem Hafen, in dem der Einwanderer schließlich festen Boden unter die Füße bekam, auf dem er seine Koffer abstellen konnte. Die Sprachen Rim bauds, Valérys und Chars konnten miteinander verschmelzen, versicherte sie. Der Traum einer ganzen Generation von jungen Beurs. In Mar - seille war jetzt schon ein eigenartiges Französisch entstanden, eine Mischung aus Provenzalisch, Italienisch, Spanisch und Arabisch, mit einer Prise Argot und einem Hauch Ver lan versetzt. Die Kids auf der Straße verstanden sich bestens darin. In der Schule und zu Hause war das ein anderes Paar Stiefel.
Als ich sie zum ersten Mal von der Uni abholte, sprangen mir die rassistischen Graffiti an den Wänden ins Auge. Verletzend und obszön. Vor dem kürzesten blieb ich stehen: »Araber und Schwarze raus!«
Ich hatte immer gedacht, die Rechtsfakultät, fünf Meter weiter, sei die faschistische. Jetzt griff der menschliche Wahnsinn schon auf die zeitgenössische Literatur über! Irgendjemand hatte
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