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Marseille Trilogie - Total Cheops, Chourmo, Solea

Marseille Trilogie - Total Cheops, Chourmo, Solea

Titel: Marseille Trilogie - Total Cheops, Chourmo, Solea Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Claude Izzo
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lassen? Ein Marseiller Clan. Etwas anderes sah ich nicht. Aber wer? Was wusste Batisti? Auf wessen Seite stand er? Bisher hatte er nie Stellung bezogen. Warum sollte er es jetzt tun? Was sollte die Vorstellung neulich Abend? Al Dakhils Hinrichtung durch zwei Killer und dann die der Killer durch Argues Männer. War Toni Teil des Plans? Von den Bullen gedeckt? Von Argue gehalten wegen seiner Pläne? Und wie hatten die Typen Leila entführt? Ich war wieder am Ausgangspunkt.
    Ecco quello che io ti darò,
    e la sensualità delle vite disperate ...
    Die Sinnlichkeit der am Leben Verzweifelten. So können nur Dichter reden. Aber die Poesie hat nie irgendwelche Antworten gehabt. Sie ist Zeuge, das ist alles. Zeuge der Verzweiflung. Und der verzwei - felten Leben. Und wer hatte mir die Fresse eingeschlagen?

    Natürlich kam ich zu spät zu Leilas Beerdigung. Ich hatte mich auf der Suche nach der Ecke für Moslems verlaufen. Das Areal war neu angebaut, weit vom alten Friedhof entfernt. Ich wusste nicht, ob in Marseille mehr gestorben wurde als woanders, aber der Tod er - streckte sich, soweit das Auge reichte. Auf dieser ganzen Fläche stand nicht ein einziger Baum. Eilig geteerte Wege. Seitenwege aus festgestampfter Erde. Reihengräber. Der Friedhof hielt sich an die Geografìe der Stadt. Es war wie in den nördlichen Vierteln. Genauso desolat.
    Ich war überrascht, wie viele Leute da waren. Moulouds Familie. Nachbarn. Und viele junge Leute. An die fünfzig. Größtenteils Araber. Die Gesichter waren mir nicht unbekannt. Flüchtige Begegnungen in den Vorstädten. Zwei oder drei hatte ich sogar wegen einer Bagatelle auf der Wache gesehen. Zwei Schwarze. Acht weiße, ebenfalls jung, Mädchen und Jungen. Neben Driss und Kader erkannte ich Leilas Freundinnen Yasmine und Karine. Wa r um hatte ich sie nicht angerufen? Ich stürzte mich blindlings auf eine Fährte und vergaß dabei sogar, ihre besten Freundinnen zu befragen. Ich war unlogisch. Aber das war ich schon immer gewesen.
    Einige Schritte hinter Driss stand Mavros. Er war wirklich ein feiner Kerl. Mit Driss meinte er es ernst. Nicht nur beim Boxen. Auch als Freund. Boxen heißt nicht nur schlagen. Vor allem muss man lernen, Schläge zu kassieren. Sie einzustecken, so, dass sie möglichst wenig wehtun. Das Leben war nichts anderes als eine Folge von Boxrunden. Einstecken und wieder einstecken. Durchhalten, nicht schlappmachen. Und an der richtigen Stelle im richtigen Moment zuschlagen. Mavros brachte Driss das alles bei. Er fand ihn gut. Er war sogar der Beste in seinem Studio. Er würde sein Wissen an ihn weitergeben. Wie an einen Sohn. Mit den gleichen Konflikten. Weil Driss alles sein konnte, was er nie hatte sein können.
    Das beruhigte mich. Mouloud würde diese Kraft und diesen Mut nicht mehr aufbringen. Wenn Driss eine Dummheit machte, würde er aufgeben. Die meisten Eltern der jugendlichen Delinquenten, die ich geschnappt hatte, hatten resigniert. Das Leben hatte sie dermaßen gebeutelt, dass sie sich weigerten, den Problemen ins Gesicht zu sehen. Sie schlossen die Augen vor allem. Schlechtem Umgang, Schule, Schlägereien, Diebstahl, Drogen. Täglich klatsch - ten Millionen Ohrfeigen!
    Ich erinnere mich, wie ich letzten Winter einen Jungen im Busserine-Viertel festgenommen hatte. Den Letzten aus einer Familie mit fünf Söhnen. Den Einzigen, der weder eingezogen worden war noch im Knast saß. Man hatte ihm kleinere Einbrüche nachgewiesen. Die Gesamtbeute betrug höchstens hunderttausend Francs. Seine Mutter öffnete uns. Sie sagte nur: »Ich habe Sie schon erwartet.« Dann brach sie in Tränen aus. Seit über einem Jahr presste er den letzten Pfennig aus ihr heraus, um seine Drogen zu bezahlen. Unter Androhung von Schlägen. Sie war im Viertel auf die Straße gegangen, um ihren Mann nicht damit zu belästigen. Er wusste alles, zog es aber vor, die Schnauze zu halten.
    Der Himmel war bleiern. Die Luft stand. Von den Teerwegen stieg eine brennende Hitze auf. Niemand stand still. Keiner hätte das lange ausgehalten. Jemand musste das aufgefallen sein, denn die Zeremonie wurde beschleunigt. Eine Frau begann zu weinen. Stoß - weise. Sie war die Einzige, die heulte. Driss wich meinem Blick zum zweiten Mal aus. Dennoch beobachtete er mich von der Seite. Ohne Hass, aber voller Verachtung. Ich hatte seinen Respekt verloren. Ich war nicht auf der Höhe gewesen. Nicht als Freund seiner Schwester, dann hätte ich sie lieben müssen. Nicht als Bulle, dann hätte ich sie

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