Marseille Trilogie - Total Cheops, Chourmo, Solea
schützen müssen.
Als die Reihe an mir war, Mouloud zu umarmen, fühlte ich mich deplatziert. Moulouds Augen waren zwei große, rote Löcher. Ich drückte ihn. Aber ich bedeutete ihm nichts mehr. Ich war nur noch eine schlechte Erinnerung. Ein Typ, der ihm Hoffnung gemacht hatte. Der sein Herz schneller hatte schlagen lassen. Auf dem Rück - weg hing Driss mit Karine, Yasmine und Mavros hinterher, um mir aus dem Weg zu gehen. Ich hatte ein paar Worte mit Mavros gewechselt, aber sie kamen nicht von Herzen. Ich war wieder allein.
Kader legte seinen Arm um meine Schultern. »Vater spricht nicht mehr. Nimm es nicht krumm. Mit uns ist er genauso. Wir müssen ihn verstehen. Driss wird Zeit brauchen.« Er drückte mir die Schulter. »Leila hat dich geliebt.«
Ich gab keine Antwort. Ich wollte kein Gespräch über Leila anfangen. Weder über Leila noch über die Liebe. Wir gingen eine Weile schweigend nebeneinander her.
Dann sagte er: »Wie konnte sie sich von diesen Typen mitnehmen lassen?«
Immer wieder dieselbe Frage. Wenn man ein Mädchen ist, noch dazu eine Araberin, und im Vorort gelebt hat, steigt man nicht in irgendein Auto. Außer man war verrückt. Aber Leila stand mit beiden Beinen auf der Erde. Und ihr Panda war nicht kaputt. Kader hatte ihn mit Leilas Sachen von der Universität geholt. Also hatte sie jemand abgeholt. Sie war mit ihm gefahren. Jemand, den sie kannte? Wer? Ich wusste es nicht. Ich hatte den Anfang. Und das Ende. Drei Vergewaltiger nach meiner Rechnung. Zwei von ihnen waren tot. War Toni der Dritte? Oder jemand anders? War er der Mann, den Leila kannte? Wer hatte sie abgeholt?
Warum? Aber ich konnte Kader nicht in meine Gedanken einweihen. Die Untersuchung war abgeschlossen. Offiziell.
»Ein Zufall«, sagte ich. »Ein böser Zufall.«
»Glaubst du an den Zufall?«
Ich zuckte die Schultern. »Ich habe keine andere Antwort. Niemand hat eine. Die Typen sind tot und ...«
»Was wäre dir lieber gewesen? Für sie? Der Knast und so?«
»Sie haben bekommen, was sie verdienen. Aber ihnen von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen, lebend, das hätte ich mir gewünscht, ja.«
»Ich habe nie verstanden, wie du Polizist werden konntest.«
»Ich auch nicht. Es ist so gekommen.«
»Ich glaube, es ist schlimm gekommen.«
Yasmine trat zu uns. Sie hakte sich bei Kader ein und drückte sich leicht an ihn. Zärtlich. Kader lächelte ihr zu. Verliebt.
»Wie lange bleibst du noch?«, fragte ich Kader.
»Ich weiß nicht. Fünf oder sechs Tage. Vielleicht weniger. Ich weiß nicht. Da ist das Geschäft. Der Onkel kann sich nicht mehr darum kümmern. Er will es mir überlassen.«
»Das ist gut.«
»Zu Yasmines Vater muss ich auch gehen. Vielleicht fahren wir beide zusammen zurück.« Er lächelte, dann sah er sie an.
»Das wusste ich nicht.«
»Wir wussten es auch nicht«, sagte Yasmine. »Nicht vorher jedenfalls. Erst durch die Trennung ist es uns klar geworden.«
»Kommst du mit zu uns nach Hause?«, fragte Kader.
Ich schüttelte den Kopf. »Ich gehöre da nicht hin. Das weißt du, oder? Ich werde deinen Vater später besuchen.« Ich drehte mich nach Driss um, der immer noch hinter uns hertrödelte. »Und Driss werde ich nicht aus den Augen lassen, sei unbesorgt. Mavros auch nicht, er lässt ihn nicht im Stich.« Er stimmte mit einem Nicken zu. »Vergiss mich nicht, wegen der Hochzeit!«
Mir blieb nur noch, ihnen zuzulächeln. Ich lächelte, wie ich es immer so gut gekonnt hatte.
Neuntes Kapitel
In dem Angst den Frauen jede Sinnlichkeit raubt
Endlich regnete es. Ein heftiges, kurzes Gewitter. Ein regelrechtes Unwetter, wie es Marseille im Sommer manchmal heimsucht. Es hatte zwar keine Abkühlung gebracht, aber der Himmel war wieder klar und wolkenlos. Das Regenwasser auf den Gehwegen verdampfte in der Sonne. Ein lauer Dunst stieg auf. Ich mochte den Geruch.
Ich saß auf der Terrasse bei Francis unter den Platanen der Allée Meilhan. Es war fast sieben Uhr. Die Canebière leerte sich schon. In wenigen Augenblicken würden die Geschäfte ihre Rollgitter hinunterlassen. Und die Canebière würde wie ausgestorben daliegen. Eine verlassene Gegend, in der nur noch Gruppen junger Araber, Leute von der Bereitschaftspolizei und einige versprengte Touristen herumliefen.
Aus Angst vor den Arabern waren die Marseiller in andere Viertel weiter außerhalb geflohen, wo sie sich sicher fühlten: die Place Sébastopol, die Boulevards de la Blancarde und Chave, die Avenue Foch, die Rue Monte-Cristo.
Weitere Kostenlose Bücher