Marsha Mellow
hievt und sich den Hörer schnappt, bevor Chris reagieren kann.
»Hallo, hier ist das Seminar«, trällert er, wobei sein unbekümmerter Ton ganz und gar nicht zu seinem leichenblassen, panischen Gesicht passt. »Hi, Mrs. Bickerstaff, hier spricht Anthony ...Ja, mir geht es gut. Und Ihnen? ... Wirklich? ... Wirklich ... Ach du meine Güte ...«
Ach du meine Güte? Was heißt Ach du meine Güte ? Was ist zu Hause bloß los? Bestimmt hat sie es erfahren. Wahrscheinlich aus der Mail Ich sehe Ant eindringlich an, damit er mir signalisiert, ob es aus ist, aber er geht völlig in seiner Rolle als Pater auf und nimmt mich überhaupt nicht wahr.
»... Wie bereits in Matthäus zwei, Vers acht, geschrieben steht: Die; die bei den Kamelen ruhen, sollen ... äh ... sollen stets das Nadelöhr verfehlen ... Tja, vielleicht wenden Sie sich mal an einen Pfarrer vor Ort... Ich würde ja liebend gern in den nächsten Flieger steigen, liebend gern, aber ich muss ... ähm ... meine Seminararbeit über Jesus überarbeiten wegen ...«
Seminararbeit über Jesus? Will der uns veräppeln?
»... Und außerdem steht meine erste große Kommunion bevor ...Ja, die Kleider werden benotet... Mann, Mrs. Bickerstaff, das schockt mich schon ein wenig ...«
Fuck, sie weiß Bescheid.
»... Es ist ziemlich heikel, so spontan am Telefon einen Rat zu geben ... Und Sie kennen ja bestimmt die katholische Haltung zur Ehescheidung...«
Scheidung! Dann hat es also doch nichts mit mir zu tun.
Moment mal. Scheidung?
»... Und ich nehme an, dass man es als geschiedene Frau schwer hat, in ein Kloster aufgenommen zu werden ...« Oh mein Gott, will sie etwa Nonne werden? »... Vielleicht sollten Sie ja mit Ihrer Familie offen darüber sprechen und daraus Kraft schöpfen ... Ich weiß, ich weiß, die haben alle keine Zeit, aber haben Sie schon versucht - ...
Amy? ...«
Verflucht, lass mich gefälligst aus dem Spiel. Hektisch gebe ich Ant Zeichen, um das abzuwürgen.
»... Schon komisch, aber die ist hier bei mir...«
»Oh, hat Sie Ihnen das nicht gesagt? Nun ja, sie hatte ziemlich viel Stress in letzter Zeit und suchte verzweifelt einen Ort der inneren Einkehr, und wir bieten ihr diese Rückzugsmöglichkeit ...Ja, auch für Nicht-Katholiken ... Nun ja, ich müsste mal schauen, ob ich Sie noch unterkriege ...«
Nein, bloß das nicht, neiiiiiiiin!
»... Amy, ja... Seit ein oder zwei Tagen ... Ich würde sie ja liebend gern ans Telefon holen ... Ich glaube, sie ist gerade in der Kapelle und hält Zwiesprache mit Gott. Bleiben Sie bitte dran, ich suche sie.«
Er legt den Hörer auf die Theke und blickt mich hilflos an.
»Was soll die Scheiße?«, zische ich ihn an.
»Tut mir Leid. Mir ist auf die Schnelle nichts anderes eingefallen. Du hast doch mitgehört. Sie ist kurz davor, völlig den Verstand zu verlieren, und der Umstand, dass sie mich für einen Priester hält, macht das Ganze nur noch schlimmer.«
Chris, der interessiert jedes einzelne Wort mitverfolgt hat, ist sichtlich fasziniert.
»Warum verliert sie den Verstand? Worum geht es denn eigentlich?«
»Erzähl ich dir später... Amy, am besten, du sprichst selbst mit ihr.«
»Das kann ich nicht. Was soll ich denn sagen?«
»Warum nicht einfach die Wahrheit?«
»Die Wahrheit? Die erträgt sie nicht«, gebe ich aufgebracht zurück, wobei ich selbst merke, dass mir dieser Satz langsam bekannt vorkommt.
»Vielleicht ja doch. Und so weit ich das beurteilen kann, sind sämtliche Probleme in eurer Familie darauf zurückzuführen, dass ihr nicht miteinander redet.«
»Ant, das ist nicht der richtige Zeitpunkt für eine beschissene Familientherapie.«
»Sprich mit ihr, Amy«, erwidert er, greift nach dem Hörer und streckt ihn mir entgegen. »Oder ist es dir lieber, wenn ich es ihr sage?«
Ich reiße ihm den Hörer aus der Hand.
»Hi... Mum«, begrüße ich sie nervös.
»Amy! Was machst du denn in New York? Seit Tagen versuche ich dich schon zu erreichen. Niemand wusste, wo du steckst. Von eurem Büro bekam ich die Auskunft, du hättest die Windpocken. Weißt du, dass ich vor lauter Sorge fast durchgedreht bin?«
»Das tut mir Leid, aber ich musste dringend mal Abstand gewinnen.«
»Aber ich brauche dich hier«, sagt sie mit unterdrücktem Schluchzen. »Hier bricht alles zusammen, wegen deinem Vater.«
Bestimmt hat Lisa ihr die Fotos gezeigt. Scheiße.
»Hast du was von Lisa gehört?«, frage ich.
»Deine Schwester zieht es vor, mich nicht zurückzurufen ...«
Dann hat sie die Fotos
Weitere Kostenlose Bücher