Marter: Thriller (German Edition)

geschlagen, weil wir den ursprünglichen Befehl nicht ausgeführt hatten. Das ging oft stundenlang so.
    Wir mussten uns auf den Rücken legen, dann sprangen sie von einem Tisch herunter auf unseren Bauch. Sie wollten unsere Eingeweide brechen. Ein Mann hatte einen Bruchsack so groß wie der Kopf eines Menschen …
    Wir Frauen wurden entkleidet. Männliche Gefangene wurden gezwungen, vor uns zu masturbieren, während die Wachleute sie beschimpften. Dann nahmen die Wachleute die Frauen mit. Manchmal wurden männliche und weibliche Gefangene gezwungen, miteinander zu Musik zu tanzen, während eine andere weibliche Gefangene vergewaltigt wurde …
    Sie sagten zu einem Freund: »Wir haben eine Rätselfrage für dich. Wie ist es möglich, beide Ohren in einer Hand zu halten?« Als er erwiderte, er wisse es nicht, schnitten sie ihm die Ohren ab, legten sie ihm in die Hand und sagten: »Hier, wir machen alles möglich.« Dann zwangen sie ihn, das Messer zu reinigen, indem er das Blut von der Klinge leckte …
    Dann stieß Daniele auf eine Datei, die schlicht mit »Warum?« betitelt war. Er öffnete sie. Darin fanden sich Barbara Holtons eigene Notizen.
    Das Seltsame ist, dass Bosnien vor dem Krieg nicht unbedingt ein besonders geteiltes Land war. Zwölf Prozent aller Eheschließungen involvierten verschiedenrassige Partner. Im Westen, Norden und Osten lebten überwiegend kroatische, bosnische und serbische Gemeinden friedlich Seite an Seite.
    Der Wendepunkt scheint irgendwann in den frühen Neunzigern zu liegen. Schlagartig waren die Zeitungen und Radioberichte voll von Aussagen und Anklagen, die auf einen ethnischen Konflikt hindeuteten. Waren sie die Ursache der Gewalt? Oder lag es an etwas anderem? Woher wussten diejenigen, die den Hass schürten, welche Hebel sie betätigen mussten? Wie kommt es, dass sie dabei so hartnäckig waren?
    Beide Armeen, Serben wie Kroaten, beschäftigten Übersetzer. Für wen? Jelena sagt, sie kannte ein Mädchen, das im Birds’ Nest von einem Amerikaner vergewaltigt wurde. Überprüfen?
    Sie hatte also herausgefunden, dass da eine Art Muster erkennbar war und dass möglicherweise auch private Militärunternehmen beteiligt waren. Doch erst am Ende hatte sie schlagkräftige Beweise gesammelt, dass diese Leute auch Befehle erteilt hatten.
    Sie war also getötet worden, weil sie zu viel wusste.
    Daniele griff zum Telefonhörer und wählte die Nummer von Kats Prepaidhandy, in der Hoffnung, von ihr auf den neusten Stand ihrer Nachforschungen gebracht zu werden. Doch er wurde direkt auf die Mailbox weitergeleitet.
    Er beendete den Anruf, betrachtete das Telefon und runzelte die Stirn. Nach seiner Entführung hatte man bei ihm eine Form des Autismus diagnostiziert, die ihn unter anderem unfähig machte, Mitleid mit anderen Menschen zu empfinden. Er selbst hatte sich stets geweigert, sich diesen Stempel aufdrücken zu lassen. Vielmehr war er der Überzeugung, dass er sich schlichtweg entschieden hatte, der Welt den Rücken zu kehren, um einer höheren Bestimmung zu folgen. Doch war er sich bewusst, dass tief in seinem Inneren tatsächlich etwas fehlte; die Musik, die andere Menschen in den Stimmen von Leuten zu hören glaubten, blieb ihm verschlossen, die Wärme, die ihnen die Freundschaft zu anderen Menschen schenkte, konnte er nicht empfinden.
    Deshalb überraschte es ihn, als er sich bei dem Wunsch ertappte, Holly und Kat mögen in Sicherheit sein.
    Andererseits aber, so rief er sich ins Gedächtnis, waren die beiden Frauen gegenwärtig äußerst nützlich für ihn. Wenn er dem Gefängnis entgehen und Carnivia retten wollte, dann musste er etwas Weltbewegenderes vorweisen können als das lächerliche »Empfehlungsschreiben«, das Kat ihm angeboten hatte.
    Da war es doch viel besser, etwas gegen die Leute in der Hand zu haben, die ihn vernichten wollten. Wertvoll genug, um es in einem Tauschhandel für seine Website und seine Freiheit einzusetzen.
    Holly und Kat, so überlegte er, mochten andere Ziele verfolgen. Doch damit würde er sich auseinandersetzen, wenn es an der Zeit war.
    In der Zwischenzeit aber gab es zweifelsohne noch mehr auf Barbara Holtons Laptop zu finden, und dann war da noch Dr. Dohertys Arbeit, die es aufzuspüren galt – den gesamten Forschungsbericht, nicht nur das Abstract. Er hatte absolut nicht die Absicht, sich an sein Versprechen Kat gegenüber zu halten, keine Informationen preiszugeben, ohne sie zuvor mit ihr und Holly zu teilen. Daniele Barbo war ein Einzelkämpfer